Wiedersehen mit einer alten Bekannten: In seinem neuen Roman „Holly“ gönnt Horror-Altmeister Stephen King seiner Figur Holly Gibney den ganz großen Auftritt. Diesmal geht sie dem rätselhaften Verschwinden mehrerer Menschen aus einer Kleinstadt im Mittleren Westen auf den Grund.
Es ist eine Zeit, mit der jeder so seinen ganz persönlichen Horror verbindet: die Corona-Pandemie. Auch das Leben von Privatermittlerin Holly Gibney wird durch Covid-19 kräftig durchgeschüttelt. Die Mittvierzigerin betrauert den Tod ihrer Mutter, einer Trump-Anhängerin und Impf-Gegnerin, zu der sie zuletzt aber ein eher angespanntes Verhältnis hatte. Mitten in dieser Lebenskrise erhält Holly einen Anruf von einer Frau namens Penelope Dahl: „Meine Tochter Bonnie ist vor drei Wochen verschwunden, und die Polizei unternimmt nichts.“
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Eigentlich gönnt sich Holly gerade eine Auszeit, aber letztlich sagt sie doch zu, den Fall zu übernehmen. Ihre Nachforschungen führen sie zu einer weit zurückreichenden Liste ungelöster Vermisstenfälle. Alle spielen im Umfeld eines inzwischen emeritierten Ernährungswissenschaftlers mit dem Spitznamen „Mr. Meat“. Ein Kannibale, der mit seiner Ehefrau gerne mal Opfer in einen Käfig sperrt, wo sie dann mit rohem Fleisch gemästet werden. Holly hat schon gegen grausame Gegner bestanden, aber hier begegnet sie dem schlimmsten aller Ungeheuer: dem Menschen in seinem (Verjüngungs-)Wahn.
Es ist gleich von Anfang an klar, wer in dieser Geschichte die Übeltäter sind, „Holly“ ist also kein klassischer Whodunit-Thriller. Stattdessen geht es darum, wie Holly dem grausamen Pärchen auf die Schliche kommt. Es spricht für King, dass die Spannung darunter nicht leidet. Wie so oft muss man sich bei King Zeit mitnehmen, „Holly“ zählt mehr als 600 Seiten.
Breitseiten gegen Trump
Stephen King hat einen Narren an seiner „Holly“ gefressen, sie ist seine neue Lieblingsfigur. Der Autor hatte sie erstmals in „Mr. Mercedes“ (2014) auftreten lassen. Eigentlich sollte es dabei auch bleiben. Am Ende trat sie aber nicht nur in der gesamten Bill-Hodges-Trilogie auf, sondern auch noch in „Der Outsider“ (2018) sowie „Blutige Nachrichten“ (2020). Kein anderer Charakter tauchte bis dato so oft im King-Universum auf. Zumindest, wenn man den mehrbändigen Dunklem Turm mal ausklammert.
Diesmal ist Holly gleich der ganze Roman gewidmet. Ihre Metamorphose vom schüchternen, autistischen Nerd zur eigenständigen, akribischen, wenn auch immer noch von Selbstzweifeln geplagten Privatermittlerin ist dabei äußerst bemerkenswert. Ein Charakter, der stark und verletzlich gleichermaßen ist, lebendig wirkt. Echt. King gibt ihrer Backstory ausreichend Raum, wer die früheren Holly-Auftritte also verpasst hat, kommt hier trotzdem gut mit.
„Holly“ ist aber nicht nur das Porträt einer starken Frauenfigur, sondern auch das eines zerrissenen Amerikas. Corona zeigte die tiefen Gräben auf, die sich durch die Vereinigten Staaten ziehen. In Donald Trump hat King, der auch stets ein politischer Autor war, denn auch einen der Hauptschuldigen für diesen Zustand ausgemacht. Der ehemalige US-Präsident bekommt besonders häufig sein Fett weg. Die hässliche Fratze Amerikas manifestiert sich in dem rassistischen, homophoben Mörder-Ehepaar. Menschen aus der vermeintlichen Mitte der Gesellschaft, die dann irgendwann ganz falsch abgebogen sind. Dass King in „Holly“ auf das übernatürliche Element komplett verzichten kann, zeigt, wie schrecklich unsere Realität geworden ist.
Lesezeichen
Stephen King. „Holly“. Aus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt. Verlag: Heyne. Originalverlag: Scribner. Hardcover mit Schutzumschlag, 640 Seiten, 13,5 x 21,5 cm; ISBN: 978-3-453-27433-4
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