Ein als Whodunit getarnter klassischer King: Horror-Altmeister Stephen King legt mit „Der Outsider“ einen neuen Roman vor. Der ist sehr in der amerikanischen Gegenwart verhaftet – und im Reich der alternativen Fakten.
Im Stadtpark von Flint City wird die Leiche eines elfjährigen Jungen gefunden. Bestialisch geschändet. Die Spuren am Tatort und Zeugenhinweise deuten auf einen unbescholtenen Bürger: Terry Maitland, ein allseits beliebter Englischlehrer, zudem Coach der Jugendbaseballmannschaft, verheiratet, zwei kleine Töchter. Der aufgebrachte Detective Ralph Anderson, dessen Sohn von Maitland trainiert wurde, ordnet eine sofortige Festnahme des vermeintlichen Kinderschänders an. In aller Öffentlichkeit. Während eines Baseballspiels. Vor den Augen der Nachbarn. Der Verdächtige kann zwar ein wasserdichtes Alibi vorweisen (er war bei einem Kongress in einer weit entfernten Stadt, wovon es sogar Filmaufnahmen gibt), aber Anderson und der Staatsanwalt verfügen nach der Obduktion über eindeutige DNA-Beweise für das Verbrechen. Ein klarer Fall also? Bei den Ermittlungen kommen weitere schreckliche Details zutage, aber auch immer mehr Ungereimtheiten. Hat der nette Maitland wirklich zwei Gesichter und ist er zu solch unmenschlichen Schandtaten fähig? Und wie erklärt es sich, dass er an zwei Orten zugleich war?
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Über weite Strecken wirkt der neue King mehr wie ein Krimi. Das Übernatürliche bricht sich erst spät in diesem Wälzer Bahn. Davor lässt King den Leser kräftig rätseln und nach einer logischen Erklärung für die Ereignisse rund um Terry Maitland suchen. Nur um dem Ganzen schließlich dann doch den Boden des Rationalen zu entziehen. Das sorgt über weite Strecken für Spannung. Die Vorstellung, wie ein beliebter Sporttrainer zum Mörder werden kann, ist ja eigentlich auch schon beängstigend genug. King weiß: Der wahre Horror kommt von innen. Er rührt von der Unfassbarkeit des Bösen her. Der Outsider, dieses übernatürliche, auf einer mexikanischen Legende beruhende Wesen, ist da fast nebensächlich.
Das amerikanische Unbehagen
Zwischen den Zeilen widmet sich King einem zweiten Ungeheuer: dem amerikanischen Unbehagen, das mit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten greifbar geworden ist. Die neue amerikanische Wut, die Spaltung, die die Gesellschaft erfährt, die allgemeine Verunsicherung – sie bestimmen die Atmosphäre, in der sich die Geschehnisse rund um den Outsider abspielen. Und mit alternativen Fakten wird hier natürlich auch ausgiebig hantiert. Dass das Monster dann aber mexikanischen Ursprungs ist, muss man ironisch verstehen. King gehört zweifellos zu den lautesten und unermüdlichsten Trump-Kritikern.
Kenner des King-Universums kommen natürlich auch wieder durch allerlei gelungene Querverweise auf das King-Gesamtwerk auf ihre Kosten. Einen Kinder mordenden Gestaltenwandler etwa kennt man aus „Es“. Die Höhle, in der das große Finale steigt, erinnert an „Desperation“. Und durch die Figur der Holly gibt es keinen subtilen, sondern eine sehr direkte Anbindung an die Bill-Hodges-Trilogie.
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