Endlich vom Reden ins Handeln kommen, das fordert die Autorin Jagoda Marinić in ihrem neuen Buch „Sanfte Radikalität“. Gesellschaftlichen Wandel kriege man nicht allein durch Wütendsein hin. Benjamin Fiege sprach mit ihr unter anderem über die Lust der Deutschen am Problem, über Aktivismus, kulturelle Aneignung und darüber wie man mit Rassisten umgeht.
Ihr Buch trägt den Titel „Sanfte Radikalität“. Was verstehen Sie darunter?
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Wann haben wir vor lauter Diskurs und Diskurs über den Diskurs das Handeln verlernt?
2012 gab es noch eine Aufbruchstimmung. Damals gab es ein nach vorne gerichtetes Handeln, den Anspruch, den Problemen voraus zu sein. Damals hatte etwa beim Thema Einwanderung die Bundesregierung verstanden, dass Deutschland ein Land in einer globalisierten Welt ist und man konstruktiv auf die Suche nach Einwanderungskonzepten gehen muss. Es war klar: Wir brauchen für die Gestaltung der Vielfalt im Land Ideen. In diesem Zeitfenster habe ich in Heidelberg das Interkulturelle Zentrum gegründet, weil es da möglich war, so ein Projekt durchzubringen und eine Stadt darin investiert hat. 2015 kam dann der Diskurs-Kollaps. Wir haben seither leider Diskurskulturen kultiviert, die nicht mehr mehr zu Lösungen, sondern nur noch zu Verhärtungen und einem Gegeneinander geführt haben.
Im digitalen Zeitalter scheint es ja zu reichen, einfach nur symbolisch Haltung zu zeigen, statt wirklich zu handeln. Die Instagram-Kachel ist da sozusagen der Politiker-Gummistiefel des digitalen Raums. Haben wir uns da zu viel von der Politik abgeschaut?
Es ist schwer zu sagen, wer sich von wem was abgeguckt hat. Ich halte es für ein Problem, wenn wir manchmal in einer deutschen Nabelschau übersehen, wie global die Phänomene sind, die uns besorgen. Plattformen wie Twitter und YouTube, die Informationsquellen geworden sind, haben zu einer unglaublichen Veränderung der Öffentlichkeit in unserer Demokratien geführt. Die Algorithmen bestimmen mittlerweile, wie und worüber wir reden. Die wenigsten Menschen machen sich das nicht bewusst, sie produzieren genau das Verhalten, das Algorithmen von ihnen wollen.
Das gilt auch für Aktivisten, die meinen, für eine gerechte Sache zu streiten. Oft war auch da eine gewisse Hybris zu spüren, zu meinen, man könne die Welt auf einer Kachel erklären. Die Auseinandersetzung wurde in diese Räume verlagert statt sie etwa in Parteien auszutragen. Dabei wäre es wichtig, ebenda politische Inhalte voranzubringen, es wäre wichtig, in die bestehenden Strukturen zu gehen und diese von innen zu erneuern.
Viele junge Leute meinen aber, in den vorhandenen Strukturen kämen sie nicht voran. Gleichzeitig haben sich Parteien inhaltlich darauf versteift, vor Rechtsaußen zu warnen statt insbesondere auch jungen Menschen ein Angebot zu machen. Es reicht nicht, einfach gegen etwas zu sein und sich darüber zu inszenieren. Es müssen konkrete Inhalte angeboten werden. Wenn das fehlt, passiert das, was wir jetzt bei den US-Wahlen gesehen haben. Für Kamala Harris hat es nicht gereicht, einfach nur Trump-Verhinderin sein zu wollen. Es fehlen die positiven Visionen. Und nach diesen frage ich auch in meinem Buch: Wo sind die Ideengeber, die Impulsgeber?
Sie schreiben dabei über die wachsende Wut im öffentlichen Diskurs. Sind wir nicht vielleicht in Wahrheit schon über diese Wut-Phase hinaus und in einer Ermüdungs- beziehungsweise Resignationsphase? Fühlen sich Menschen einfach von viel zu akademischen Diskursen intellektuell abgehängt und müde gelabert?
Ich fürchte eher, dass die Debatten bei uns gar nicht besonders intellektuell geführt werden. Wir haben eine Medienlandschaft, die stark personalisiert, die eben nicht intellektuell Ideen präsentiert. Oder sachlich Problemlösungen thematisiert. Wenn Sie sich Diskussionen im deutschen Fernsehen von vor 30 Jahren anschauen, gab es da Raum für Nebensätze. Die Menschen hatten auch die Geduld, sich das anzuschauen. Bildung als Wert war etwas, auf das man sich einigen konnte. Das wurde auch von jenen bewundert, die nicht gebildet waren. Das ist heute nicht mehr so. Gebildete werden als Elfenbeinturm beschimpft. Eine Demokratie lebt aber auch von gebildeten Bürgerinnen und Bürgern. Wir bauen immer mehr gewachsene Strukturen ab, die eine Demokratie braucht, um gut zu funktionieren.
Zeitgleich müssen sich Intellektuelle fragen: Warum wagen wir es, so ideenlos zu sein in diesen Zeiten? Warum wagen wir es, das siebte Panel zum 700. Detailprobleme der 700. Sache zu organisieren? Da kreist man um sich selbst statt Ideen einzubringen, Impulse zu geben, wie Bürger, die weniger Zeit für Engagement und Politik haben, sich in ihren Kommunen einbringen können, damit die Menschen real merken, dass Wissen und Bildungsvorsprung nichts Egoistisches sind, sondern der Gemeinschaft zugutekommen. Es dient ja nicht der Selbstdarstellung, sondern der Gemeinschaft. Kritisches Denken darf nicht dekonstruieren, sondern muss auch riskieren, Vorschläge fürs Konstruieren zu machen. Das Problem in unseren Demokratien ist, dass wir zehn Jahre ein Ideen- und Lösungsvakuum hatten.
Sie schreiben, man muss die Wut als Antriebsfeder des Handelns durch Hoffnung ersetzen. Wie geht das in Zeiten, in denen man im Netz ständig mit echten und vermeintlichen Ungerechtigkeiten bombardiert wird? Aus dieser Empörungsspirale findet man doch nur heraus, wenn man sich offline nimmt. Und dann überlässt man den Diskursraum den Extremen.
Es war vermutlich ein Fehler, dass so viele Twitter verlassen haben, als Musk es kaufte. Man darf da nicht kapitulieren, sondern muss sich auch dem Streit stellen. Viele sind da aber erschöpft. Beim Thema Wut fange ich gerne mit Stéphane Hessels Bestseller „Empört Euch!“ an. Auf diesen Aufruf „Empört Euch!“ konnte sich die bürgerliche Gesellschaft damals einigen, da hatte man das Gefühl, wenn man sich aufrecht macht und an die demokratischen Grundwerte erinnert, dass man damit etwas zurechtrücken kann.
Irgendwann ist das dann aber zum Selbstzweck verkommen. Empörung in Dauerschleife. Und weil das Spiel mit der Empörung so gut funktioniert, sind auch die Rechten auf den Trichter gekommen, die Empörung hat sich als Aufmerksamkeitsstrategie etabliert und abgenutzt zugleich. Die Sozialen Medien schlagen daraus ebenfalls Kapital. In einem Zeitalter, in dem sich die demokratische Öffentlichkeit so verwandelt hat, braucht es neue Wege. Hoffnung etwa. Sie kann Kraft bringen, zu gestalten. Man muss die Mitte wieder begeistern für Projekte. Projekte fürs Klima, für Einwanderung, für Gesundheit, für Bildung. In Heidelberg ist mir so eines mit dem Interkulturellen Zentrum, mit der Hilfe von vielen Unterstützern, gelungen.
Die Wut einfach rauszuschreien, ist natürlich einfacher als sich zu engagieren und Projekte anzustoßen, die vielleicht erst nach Jahren Früchte abwerfen. Fehlt es uns in dieser zunehmend individualisierten Gesellschaft und der Instant-Belohnungsmentalität dazu nicht letztlich an Gemeinsinn und Geduld?
Er fehlt so sehr, dass ich ihn mit diesem Begriff „Sanfte Radikalität“ gerne wiedererwecken möchte. Es geht um Verantwortung. Darum, Verantwortung zu übernehmen, für die eigene Menschwerdung, für die eigene Demokratwerdung und den Erhalt der Demokratie. Man muss sich auch die Frage der Wirksamkeit stellen. Muss ich das 100. Buch zum selben Buch wirklich schreiben? Oder biete ich besser neue Ideen an? In der Zeit, in der ich in Heidelberg das Zentrum aufgebaut habe, hatte ich viel weniger Zeit dafür, Bücher zu schreiben oder Vorträge zu halten, aber konnte Verantwortung für meine Community übernehmen.
In einer globalisierten Welt kann man nicht immer an den großen Stellschrauben drehen. Oft ist es ratsam, vor Ort Verantwortung zu übernehmen, wo man Wirkmacht und Einfluss hat. Da merkt man auch schneller, dass sich Effekte einstellen und wirkt Ohnmachtsgefühlen entgegen. An einer Stadtgesellschaft kann man erfolgreich arbeiten, ebenso an basisdemokratischen Elementen vor Ort. Der Mensch ist von Natur aus auf soziale Kooperation angelegt, das zeigt die Hirnforschung.
In einem Kapitel Ihres Buchs geht es um kulturelle Aneignung. Wann ist etwas Hommage oder Zitat, wann kulturelle Aneignung? Und: Geht es im Kulturbetrieb überhaupt ohne?
Genau damit beschäftige ich mich in dem Kapitel „Streit“. Es wird oft so getan, als gäbe es zu jeder Frage nur ein Ja und ein Nein. Dabei gibt es meistens ein Dazwischen, über das man reden kann. Leider fokussieren sich viele Aktivisten zu sehr auf das „Nein“, auch in der Debatte, in der es um kulturelle Aneignung geht. Da war und ist immer zu viel falsche Gewissheit im Spiel. „Kulturelle Aneignung“ ist ja erst einmal eine These. Kulturelle Aneignung, finde ich, zum Beispiel in Bereichen wie der Medizin und der Wirtschaft problematisch: Da beuten große Konzerne das Wissen einer machtlosen Gruppe aus, kapitalisieren es, und die Gruppe selbst profitiert nicht davon, hat vielleicht nicht einmal Zugang zu den dann teuren Medikamenten. Da wird kulturellen Wissen ausgebeutet zum Schaden aller.
Kritik an solchen Zuständen hätte sicher mehr Anschlussfähigkeit bei Bürgern als einen Musiker zu beschuldigen, weil er sich bei anderen Inspiration geholt hat. Künstler haben sich immer gegenseitig inspiriert. . So konnte überhaupt erst Neues entstehen. In solchen Debatten hat sich leider auch der Kulturbetrieb ad absurdum geführt und folgte dem Aktivismus statt der Kunstfreiheit. In einem Bereich, der so progressiv, erfinderisch und hoffnungsstiftend sein könnte, sind plötzlich unheimlich viele schlecht gelaunte Moralapostel unterwegs.
Bleiben wir bei der Hoffnung. In dem Buch beschreiben Sie, wie Sie es in Heidelberg geschafft haben, auch Menschen für ihr Projekt zu gewinnen, die ursprünglich damit nichts zu tun haben wollten, sogar mit Begriffen wie „Migrantenschrottplatz“ um die Ecke kamen. Woran haben Sie gemerkt, dass die noch nicht komplett verloren waren
Ich glaube, dass jeder potenziell so gut ist, wie er kann sein und so schlecht, wie er sein kann. Es liegt also auch am Angebot, ob ich das Gute oder Schlechte heraushole aus Menschen. Es war sicherlich schwierig, mit Menschen zu reden, die man leicht als Rassisten hätte bezeichnen können. Ich habe aber auch Filme über Aussteiger aus dem Ku-Klux-Klan gesehen und dachte mir: Wenn sich selbst diese radikalisierten Menschen ändern können, dann muss es unsere Aufgabe sein, die Menschen im Gespräch zu halten.
Natürlich muss man Einhalt gebieten, wenn jemand bewusst Falschinformationen verbreitet. Aber die meisten Menschen im Alltag sind keine Propagandisten. Die meisten Menschen im Alltag haben Gründe, wie sie zu ihren Verhärtungen gekommen sind. Die Empathie in uns und ihnen wach zu halten, kann helfen. In unserem Zentrum haben wir durch Begegnungen Vorurteile abgebaut. Es ist möglich, dass Menschen durch positive Erfahrungen eine neue Haltung entwickeln, das habe ich in Heidelberg immer wieder aufs Neue erlebt. Das hat mir Hoffnung gegeben.
Sie vergleichen Heidelberg in seiner Zusammensetzung gern mit Toronto. Was hat die Stadt besser gemacht als andere Kommunen? Oder hatte sie einfach nur Glück?
Den Vergleich mit Toronto hat damals die Sinus-Studie gemacht: Die migrantische Zusammenstellung in Heidelberg ist atypisch für Deutschland, auch, weil Heidelberg eine Universitätsstadt und ein Wissenschaftsstandort ist. Das hat mich damals unheimlich gereizt und auch motiviert, dieses Zentrum gerade dort zu gründen. Ich wollte dieses Potenzial ausschöpfen. Die Stadt bietet im Grunde ein Vorgriff auf das, was in Deutschland mal sein könnte. Migranten vermehrt nicht nur Arbeits-, sondern auch Wissensmigranten sein werden. Wir müssen uns bewusst machen, dass Eingewanderte Gestaltungspotenziale mitbringen. Leider wird immer lieber über Sozialhilfe gesprochen, statt dieses Riesenpotenzial zu erkennen.
In Heidelberg haben sie das vorgefunden, aber auch erkannt, das Interkulturelle Zentrum wurde daher nicht einfach nur irgendein Haus, sondern eine zentrale Schnittstelle zwischen der eingewanderten Zivilgesellschaft und der Stadtverwaltung. Internationalität wurde mit Leben gefüllt statt mit Ängsten mit Projektionen, wie schlimm etwas sein könnte. Es fällt uns in Deutschland leider immer schwer, das Gelingende zu stärken. Wir verlieren uns in der Problembeschreibung.
Wieso haben Sie die Leitung des Hauses denn abgegeben?
Als es etabliert war, habe ich persönlich ein neues Ziel gebraucht. Es war ein großes Privileg, eine nachhaltige Struktur für ein Zukunftsthema mit einer Kommune und der Zivilgesellschaft erarbeiten zu dürfen. Es hat länger gedauert, als ich ursprünglich geplant hatte. Ich dachte am Anfang, in zwei Jahren wäre die Sache geschafft. Aber so ein Bauprojekt dauert, und wenn man zu früh geht, riskiert man unter Umständen den Erfolg und enttäuscht die Hoffnungen derer, die vorher 20 Jahre lang vergeblich für so ein Haus gekämpft hatten. Also habe ich es länger durchgezogen. So habe ich nun auch die Möglichkeit bekommen, eine Geschichte des Gelingens zu erzählen. Von solchen brauchen wir gerade jetzt mehr.
Termin
Jagoda Marinic liest aus „Sanfte Radikalität“ am Dienstag, 17. Dezember, 19 Uhr, bei der Initiative Parasol in der Hebel-Halle in Heidelberg. Es spielt die Cellistin Katja Zakotnik. Eintritt ist frei, Spenden erbeten.
Zur Person
Jagoda Marinić ist Schriftstellerin, Kolumnistin und Podcasterin, sie wurde geboren am 20. September 1977 als Kind kroatischer Einwanderer in Waiblingen (bei Stuttgart). Sie schrieb „Die Namenlose“ (2007), „Restaurant Dalmatia“ (2013), „Sheroes. Neue Held*innen braucht das Land“ (2019) und das gerade erschienene „Sanfte Radikalität“. Seit 2021 moderiert sie den Podcast „Freiheit Deluxe“, außerdem ist sie bei „Apokalypse und Filterkaffee“ zu hören. In ihrer Wahlheimatstadt Heidelberg leitete sie von 2012 bis 2023 das Interkulturelle Zentrum. 2023 übernahm sie die künstlerische Leitung des Internationalen Literaturfestivals.
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