In ihrem neuen Buch „Sanfte Radikalität“ wirbt die Autorin Jagoda Marinić dafür, radikal im Ziel, aber sanft in den Methoden zu sein, wenn es um das Herbeiführen eines gesellschaftlichen Wandels geht. Das Motto: „Engagiert Euch!“ statt „Empört Euch!“
.Der Krieg in der Ukraine dauert an. Die Klimakatastrophe bedroht unsere Lebensgrundlage. Donald Trump wird wieder US-Präsident. Und in Deutschland stehen wir ohne handlungsfähige Regierung da. Wer sich so durch die schlechten Nachrichten gearbeitet hat, mag den Drang verspüren, sich in sein Auto zu setzen, nach Stuttgart zu fahren und dort der Einladung des baden-württembergischen Landesmuseums zu folgen, den sogenannten „Wut“-Raum aufzusuchen. Der ist Teil der gerade laufenden „Protest“-Ausstellung, in ihm kann man mit Schaumstoffknüppeln auf eine ausgediente Autokarosse einprügeln.
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Der interaktive Ausstellungsraum soll veranschaulichen, dass Wut als Antriebsfeder für Protest und gesellschaftlichen Wandel dient. Wenn man dann aber dort seine Wut rausgeschrien hat, wird man leider trotzdem feststellen, dass man zwar seiner Emotion spektakulär Ausdruck verliehen hat, die Probleme und Ärgernisse unserer Zeit jedoch immer noch da sind.
Wut allein ist eine Sackgasse. Das stellt die in Heidelberg lebende Schriftstellerin Jagoda Marinić in ihrem neuen Buch „Sanfte Radikalität“ fest. Marinić engagiert sich seit rund 15 Jahren für Minderheitenrechte und Feminismus, schreibt dazu Bücher und Kolumnen, hält Vorträge, diskutiert auf Konferenzen und in Podcasts.
Vom Schimpfen ins Handeln kommen
Auch sie sei angesichts vieler Missstände und Ungerechtigkeiten lange Zeit wütend gewesen, schreibt sie. Auch ihr sei die Wut eine ganze Weile lang ein Antrieb gewesen. Aber sie habe erkannt: Nur durch Wut lässt sich kein Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse erreichen. Die Wut muss in konstruktive Bahnen gelenkt werden. Man müsse vom Schimpfen, vor allem vom Beschimpfen, ins Handeln kommen. „Es wäre eine sanfte Radikalität, die nicht schreien muss, weil sie aus der Gewissheit erwächst, kraftvoll am Wandel zu arbeiten. Die Voraussetzung für die sanfte Radikalität ist: Hoffnung“, schreibt Marinić in ihrem neuen Buch.
Woher aber diese Hoffnung nehmen? Marinić setzt in dieser globalisierten, hochkomplexen Welt da auf eine Reduktion des Blicks. Statt immer gleich das große Ganze in den Blick zu nehmen und daran zu verzweifeln, könne es helfen, sich vor Ort zu engagieren. Und wenn das viele tun, könne in der Summe auch das große Ganze wieder besser werden, so ihre These.
In der Praxis erprobt
Jagoda Marinić weiß, wovon sie spricht. Sie selbst ist ins Handeln gekommen, hat sich in die Strukturen begeben, die sie verändern wollte und 2012 in ihrer Wahlheimatstadt Heidelberg ein Interkulturelles Zentrum aufgezogen. Ein Haus, das sich als Ort der kulturellen Teilhabe definiert und den Zusammenhalt in der Stadtgesellschaft sowie die Integration von Eingewanderten fördern will. Und das nicht, indem dort vor allem Probleme gewälzt wurden, sondern das Gelingen in den Vordergrund gestellt wurde. Die erfolgreiche Arbeit im Interkulturellen Zentrums, dessen Leitung sie 2023 abgegeben hat, ist ein immer wiederkehrendes Beispiel im neuen Buch von Marinić, das somit Inspirationsquelle und Orientierungshilfe zugleich ist.
Das Buch ist aber nicht nur ein reiner Appell. Marinić beobachtet klug, kritisiert scharfsinnig auch jene, die es in der Vergangenheit zu gut gemeint haben und dabei weit über das Ziel hinausgeschossen sind. Jene, die einen zu engen Blick haben. Etwa, wenn es um kulturelle Aneignung geht. Marinić ruft zur Differenzierung auf, kritisiert auch, wie Aktivisten stumpf die Schablonen der US-amerikanischen Menschenrechtsbewegungen kopieren, ohne ihr Tun auf deutsche Verhältnisse anzupassen. So kommt es, dass Menschen wie Marinić, Tochter von kroatischen Einwanderern, von sogenannten Linksrechtsdeutschen kein Rederecht im Rassismus-Diskurs eingeräumt wird, weil sie als zu „weiß“ und „privilegiert“ gelten. Rassismus lasse sich gerade in Deutschland aber nicht nur an der Hautfarbe, sondern auch an der Herkunft festmachen, so Marinić .
Einem jüdischen weißen Mann würden Aktivisten absurderweise seine Diskriminierungserfahrungen absprechen. Auf Diskriminierungserfahrungen solle man sich aber auch nicht reduzieren lassen und schon gar nicht sich selbst reduzieren, was Marinić ebenfalls vielen Aktivisten vorwirft.
Am Ende gehe es auch darum, und das können sich sowohl Politik als auch Zivilgesellschaft zu Herzen nehmen, hierzulande wieder eine gewisse Lösungslust zu entwickeln. Was simpel klingt, ist es in Wahrheit nicht, wie ein Blick auf die gesellschaftliche Gemengelage belegt.
Marinić weist mit ihrem Aufruf den Weg in eine bessere Zukunft. Die ist schließlich das, was wir aus ihr machen. Ihr leidenschaftliches Plädoyer für mehr Mit- statt Gegeneinander kann ein kleines Mosaikstück auf dieser langen Strecke sein. Die Ressourcen dazu sind da, man muss sie aktivieren. Es wäre ein Fehler, Marinićs Ansatz als utopisch abzustempeln.
Lesezeichen
Jagoda Marinić: „Sanfte Radikalität: Zwischen Wandel und Hoffnung“; S. Fischer; 160 Seiten; 20 Euro.
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