Die Singer-Songwriterin und Multiinstrumentalistin Abigail Lapell steht mitten im Leben. Jetzt hat sie, inspiriert von genau diesem Umstand, mit „Anniversary“ ein neues Album vorgelegt. Es geht um die Liebe, und das mal beschwingt, mal gefühlig, mal feiernd, aber nie naiv.
Abigail Lapell dürfte den meisten hierzulande eher unbekannt sein. Schade eigentlich. Denn die Indie-Folk-Songwriterin und Multiinstrumentalistin aus dem kanadischen Toronto kann schon richtig was vorzeigen. Ihre bisherigen drei Alben wurden mit drei Canadian Folk Music Awards ausgezeichnet und erreichten über 30 Millionen Spotify-Streams. Lapell tourt vornehmlich durch Kanada und die USA und tritt üblicherweise mit Gesang, Mundharmonika, Klavier und Fingerstyle-Gitarre auf. Leider wurde erst ihr bis dato letztes Album „Stolen Time“ auch hierzulande feilgeboten.
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Zwei Jahre nach ihrem letzten Album – dazwischen gab es noch eine EP namens „Lullabies“ – legt die Gute nun also ihren nächsten Longplayer vor: „Anniversary“, erschienen bei Outside Music. Für die Aufnahmen hatte sich Lapell einen stimmungsvollen Ort ausgesucht: die 200 Jahre alte St. Mark’s Church in Niagara-on-the-Lake, Ontario. Unterstützt wurde sie bei den Arbeiten von dem kanadischen Produzenten Tony Dekker von den Great Lake Swimmers. Er hat den gespenstischen, resonanten Sound des Projekts mitgestaltet und singt auch einige Duette mit Lapell.
Hinterfragen eines Ideals
Inhaltlich hinterfragt die Gute das romantische Ideal des gemeinsamen Älterwerdens. „Anniversary“ bedeutet wörtlich übersetzt „jährlich wiederkehrend“. Die elf Songs des Albums verfolgen die sich verändernden Tage, Jahreszeiten und Jahre, um die Vorstellung von ewiger Liebe zu feiern und zu verkomplizieren. Lapell hat sich für das Projekt von einer Reihe persönlicher Erfahrungen inspirieren lassen. Darunter fällt ihr 40. Geburtstag und der 15. Todestag ihres Vaters – und in jüngerer Zeit mehrere Hochzeiten und Geburten in ihrer Familie. Sie bietet eine Vision der 40-Jährigen von der Liebe, die von den Geistern verstorbener Lieben, vergangener Beziehungen oder sogar dem Gespenst einer verblassten Jugend heimgesucht wird. Dass die Kirche, in der die Platte aufgenommen wurde, an einen Friedhof angrenzt, hat da ganz gut gepasst.
Zu den Glanzlichtern der Scheibe gehört beispielsweise das vorab als Single ausgekoppelte „Rattlesnake“, eine Ode an die Liebe und den Aberglauben gleichermaßen. Eine Nummer, die von traditioneller Musik inspiriert wurde, aber doch modern wirkt. Auch „Flowers In My Hair“, das countryeske „Blue Blaze“ oder das fast schon rockige „Anniversary Song“ bleibt haften. Auf dem letztgenannten Track ist das hauseigene Cembalo zusammen mit Schlagzeug, Bass, E-Gitarre und mehreren Schichten von gedoppeltem Gesang und Harmonien zu hören.
Lapell sagt: „‚Anniversary Song‘ wurde von der Idee inspiriert, traditionelle Geschenke zum Jahrestag (Baumwolle, Leder, Diamanten) mit dem Periodensystem der Elemente (Eisen, Kohlenstoff, Silber) zu vermischen, um die physischen und symbolischen Bande der Zusammengehörigkeit zu feiern.“ Als Anspielung auf die romantische „Chemie“ unterstreicht „Anniversary Song“ einige der wiederkehrenden Dualitäten des Albums: wörtlich und symbolisch, irdisch und jenseitig.
Feier der Bindung
„Ich wollte einige der Widersprüche innerhalb der popkulturellen Vorstellung von Liebe erkunden“, sagt Lapell. „Diese Dichotomien von Licht und Dunkelheit, Liebe und Verlust, Vergänglichkeit und Ewigkeit – sogar in den traditionellen Ehegelübden, ‚Krankheit und Gesundheit, reicher oder ärmer‘.“
Während „Anniversary“ die Mythen der romantischen Liebe dekonstruiert, entpuppt es sich letztlich als eine aufrichtige Feier der Bindung – in Anerkennung ihrer Tragödie und Hoffnung und ihrer Fähigkeit, gleichzeitig zu verfolgen und zu trösten.
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