In die Fußstapfen von Phil Collins und Peter Gabriel bei Genesis treten? Ray Wilson musste nicht lange überlegen. Über Selbstbewusstsein verfügte der Schotte damals, hatte er doch mit seiner eigenen Band Stiltskin in den 1990er Jahren schon einen Nummer eins-Hit auf der Habenseite („Inside“). Mit Genesis nahm Wilson dann das letzte Album der Band „Calling All Stations“ auf. Warum es danach nicht mehr in der Konstellation weiterging, wie er das Aus damals verdaut hat und wie seine Solokarriere läuft, das verriet Wilson Benjamin Fiege im Interview. Das Gespräch wurde Anfang Januar geführt.
Ray, wie bist du ins neue Jahr gestartet?
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Es war ein ruhiger Start, zusammen mit meiner Frau, wir haben im September geheiratet. Sie ist gerade schwanger. Da haben wir es also ruhig angehen lassen, waren über Neujahr zu Hause, haben relaxt, uns das Feuerwerk angeschaut. Und einfach Menschen gemieden. (lacht)
Startest du mit guten Vorsätzen?
Eher nicht. Ehrlich gesagt bin ich nicht so der Typ, der die Weihnachts- und Neujahrszeit mag. Ich bin immer froh, wenn diese Phase vorbei ist. Mir hat das noch nie gefallen, ich weiß nicht warum. Meine Frau ist da anders. Sie ist polnische Katholikin, ihr bedeutet das sehr viel. In Schottland hatten wir ja 400 Jahre überhaupt keine Weihnachten. Silvester ist da eher ein Ding, da betrinkt man sich in Schottland gerne. Ich aber nicht, ich trinke keinen Alkohol mehr. Für mich ist diese Zeit langweilig. Ich würde gern arbeiten, kann aber nicht, weil alles geschlossen ist.
Du wärst dann eigentlich lieber on the road?
Ich mag einfach, wenn das Leben tobt. In dieser Zeit ist auch kaum jemand auf der Straße, alle sitzen im Warmen zu Hause. Das finde ich deprimierend.
Ein Ray-Wilson-Weihnachtsalbum wird es also eher nicht geben?
Auf keinen Fall! Ich mag auch keine Weihnachtskarten. Ich verschicke keine, und bekomme auch keine.
Neues Songs in der Pipeline
Produktiv bist du ja dennoch gewesen. Ich habe gelesen, dass du an neuen Songs arbeitest …
Ja, in Sachen Songwriting hatte ich mir ein paar Jahre Pause gegönnt. Mein letztes Album erschien in der Covid-Zeit, „The Weight of Man“ (2021). Mit dem war ich sehr zufrieden, es ist mir gelungen, finde ich. Danach hatte ich aber das Gefühl, nichts mehr zu sagen zu haben. Mir sind dann die Ideen ausgegangen. Mich hat diese ganze Situation auch etwas bedrückt, Trump, der um sich greifende Populismus. In den vergangenen Monaten, Ende 2024, hat mich dann aber wieder die Inspiration gepackt. Auch weil mir Parallelen zwischen heute und meiner Kinder- und Jugendzeit aufgefallen sind. Auch damals, nach der Kubakrise, hatte man das Gefühl, die Welt geht bald unter. Das ging sie aber nicht. Heute hat man wieder ein ähnliches Gefühl. Trump, der Krieg in der Ukraine. Dennoch bleibe ich hoffnungsvoll, dass sich die Dinge wieder zum Besseren wenden werden und sich die Vernunft am Ende durchsetzt.
Also wird die neue Platte eher politisch werden?
Politik spielte ja schon bei „The Weight of Man“ mit rein, aber es ging eher um den Zustand dieser Erde, darum, wie die Menschen sich mehr und mehr an den Extremen orientieren. Die Leute wählen lieber extrem rechts oder extrem links statt einen Kompromiss in der Mitte zu finden. Dabei sind Kompromisse das Beste. Die Mitte ist der Ort, an dem wir Frieden finden. Es geht aber auch um diese Gier, diese immer schlimmer werdende Kluft zwischen Arm und Reich. Wenn ein Prozent der Bevölkerung 90 Prozent des Vermögens in einer Gesellschaft besitzt, ist das ekelhaft. Für mich ist das die größte Bedrohung für unsere Gesellschaften. Die Menschen wollen Antworten auf drängende soziale Fragen. Das inspiriert mich.
Wird das Album noch 2025 kommen?
Ich glaube nicht, ich bin jetzt erst etwa zur Hälfe durch mit dem Schreiben. Ich schreibe etwas langsamer als früher. Neulich habe ich mir ein Interview von Howard Stern mit Bruce Springsteen angeschaut, indem Letzterer zu Protokoll gab, zwei Jahre lang nichts geschrieben zu haben. Ich fand das schwer vorstellbar, weil Bruce ja eigentlich einer ist, der unheimlich produktiv ist. Dann sagte er aber, dass nach dieser Pause das Songwriting für sein nächstes Album nur zwei Wochen gedauert hat. Das leuchtete mir wiederum ein. Man hat plötzlich einen Schub an Adrenalin, an neuen Ideen. Ich glaube, ich bin gerade an einem ganz ähnlichen Punkt.
Ich lege mich aber nicht auf einen Release-Termin fest. Eigentlich ist es ja widersinnig, in Zeiten wie heute ein Album zu veröffentlichen. Der Markt ist durch Streaming ein anderer geworden. Man denkt als Künstler viel mehr von Song zu Song. Es könnte also sein, dass ich die Songs eher einzeln denn in Album-Form veröffentliche. Da überlege ich noch.
Werden denn in Neustadt schon ein paar der neuen Songs zu hören sein?
Ja, ein paar Songs habe ich schon Ende 2024 auf Tour ausgetestet. Dosiert, klar, man kann dem Publikum nicht zu viele Songs in einer Show anbieten, die es vorher noch nicht gehört hat. Aber ein, zwei neue Songs können sich auf einer Setlist schon wiederfinden. Für mich ist dieses erste Feedback spannend, man bekommt als Künstler so ein Gefühl dafür, ob ein neuer Song funktioniert. Hat er genug Tempo? Genug Energie? Kommen die Emotionen richtig rüber? Sobald man auf der Bühne steht, fühlt sich ein Song ganz anders an. Oft teste ich ein Lied daher erstmal live, bevor ich es richtig aufnehme.
Neugier statt Nervosität
Bist du nervös, bevor du einen neuen Song auf der Bühne präsentierst?
Generell neige ich nicht zur Nervosität. Eine gewisse Ungewissheit schwingt da aber natürlich schon mit. Ich bin dann nicht nervös, sondern eher neugierig. Die Leute, die da vor der Bühne stehen, mögen mich ja, sei es wegen meinen Solo-Songs oder der Lieder von Genesis oder Stiltskin. Ich finde es dann eher spannend, wie sie auf das neue Material reagieren.
Wer ist denn das erste Publikum für einen neuen Song? Ist es ein strenges?
Meine Töchter sind da leider noch etwas zu jung für. Die erste Person, die meine Songs hört, ist meine Ehefrau. Sie ist selbst auch musikalisch und singt. Dann kommt die Band. Ich habe aber, gerade im Band-Kontext, irgendwann gemerkt, dass man nicht nach Meinungen fragen sollte. Da würde man fünf verschiedene Meinungen bekommen, das macht die Dinge nur konfus. Mein Bass-Spieler ist ein Jazz- Fan, der Keyboarder auch, der Geiger mag lieber Klassik, mein Bruder steht mehr auf Rock ’n‘ Roll – man findet da in einer Band ganz unterschiedliche Geschmäcker. Am Ende muss man einfach tun, was man fühlt. Man muss sich selbst treu bleiben, darf da auch ein bisschen arrogant sein. Wenn man jünger ist, versucht man noch sehr, es allen recht zu machen. Man will modern und zeitgemäß sein. Wenn man älter ist, ist einem das alles egal. Da weiß dann noch nicht einmal, was modern und zeitgemäß ist. In dieser Phase bin ich. Und mein Publikum vertraut mir und meinem Urteilsvermögen.
Ist deine Frau eine harte Kritikerin?
Ja, ist sie. Sie sagt mir, wie die Dinge sind. Wichtig ist, dass Kritik konstruktiv ist und nicht negativ. Negativität kann man im kreativen Prozess nicht gebrauchen. Manche Songs starten vielleicht sehr basic, sind im Anfangsstadium vielleicht sogar schlecht. Nehmen wir als Beispiel „I Can’t Dance“ von Genesis, einer der größten Hits der Band. Das startete als Wegwerf-Riff von Mike Rutherford, am Anfang fanden sie es alle noch lächerlich. Und dann erwuchs da doch dieser Riesenhit daraus.
Dein Konzert in Neustadt wird auch mit Genesis beworben …
Ja, der Anteil der Genesis-Songs in der Show rechtfertigt das, es wird einige zu hören geben. Dazu wird es auch ein paar Solo-Sachen von Phil Collins und Peter Gabriel geben. Dazu gibt es natürlich Songs aus meiner eigenen Welt.
Plötzlich bei einer der größten Bands der Welt
Wagen wir nochmal einen Rückblick darauf, wie du in der Band gelandet bist. Ist es richtig, dass du dir einen Rennen mit einem Konkurrenten liefern musstest?
Ja, es gab einen Mitbewerber, den ich aber nie getroffen habe. David Longdon, den man auch von der Prog-Rock-Band Big Big Train kennt, die auch sehr erfolgreich war. Er ist leider kürzlich verstorben. Ihm wurde damals der Job bei Genesis ebenfalls angeboten. Offenbar dachte man sich bei Genesis ein Konzept wie bei Mike & The Mechanics fahren zu können: mit zwei Sängern. Die Idee fand ich damals lächerlich, im Rückblick wäre es aber vielleicht die bessere Variante gewesen. David klang nämlich mehr wie Phil Collins, ich eher wie Peter Gabriel. Das hätte also durchaus Sinn ergeben. Songs wie „Invisible Touch“ oder „I Can’t Dance“, die ich nicht mag und die auch nicht zu mir passen, hätten durchaus zu David gepasst. Und Stücke wie „Carpet Crawlers“ oder „Mama“ wären dann eher bei mir gelandet. Wir hätten uns da möglicherweise gut ergänzt.
Wäre das auch weniger Druck für dich gewesen, in die Fußstapfen von Peter Gabriel und Phil Collins zu treten?
Diesen Druck habe ich verspürt, dazu bin ich zu schottisch. I did not give a f***. Ich war selbstbewusst, wusste, dass ich den Job erledigen konnte, dass ich singen konnte. Mir war auch klar, dass mir manche Songs eher liegen würden als andere. Da war ich realistisch. Kritik von außen hat mich da nie interessiert. Dafür ist Kunst zu subjektiv. Der eine mag mich, der andere nicht, das ist okay. Kunst ist kein Wettkampf.
Kritik kam ja damals ziemlich stark von Medien-Seite. Zeitungen, …
Wahrscheinlich, ja. Ich habe mir Kritiken, Reviews, wirklich nie durchgelesen. Man macht immer Dinge, die der eine gut, der andere schlecht findet. Das ist selbst David Bowie passiert.
Wäre es härter gewesen, wenn Social Media schon ein Ding gewesen wäre?
Ich glaube schon. Wäre ich auf Twitter oder X unterwegs, hätte ich mir da wohl schon Beleidigungen anhören müssen. Aber da bin ich nicht aktiv, das interessiert mich nicht so sehr. Es ist ja klar, dass man Leute wie Collins oder Gabriel nicht wirklich ersetzen kann. Es gibt wenige Bands, denen es gelungen ist, einen erfolgreichen Frontmann durch den nächsten erfolgreichen Frontmann zu ersetzen. AC/DC ist das als einziger Band geglückt, Brian Johnson hat als Nachfolger für Bon Scott funktioniert. Vielleicht lag das aber auch daran, dass Bon Scott verstarb. Scott und Johnson klingen auch sehr ähnlich. Und mit „Back in Black“ haben sie natürlich auch direkt einen Meilenstein abgeliefert.
„Calling All Stations“ war kein „Back in Black“. Es hatte tolle Songs, aber es hätte trotzdem ein besseres Album sein können. Hätten wir ein zweites aufgenommen, wäre das wohl auch besser geworden. Dann hätten wir schon mehr miteinander gespielt und uns besser kennengelernt. Man hatte mir den Job angeboten, weil ich stimmlich ein bisschen an Peter Gabriel erinnere, dann aber leider ein Album produziert, dass eher für Phil Collins gepasst hätte.
Wäre es vielleicht einfacher gewesen, wenn man euch als Genesis feat. Ray Wilson vermarktet hätte? So wie es Queen mit Adam Lambert machen?
Ich bin Brian May mal begegnet, er kam zu einem unserer Konzerte in Zürich. Noch vor Adam Lambert. Und sogar noch vor der Sache mit Paul Rodgers. Er wollte damals schauen, wie es Genesis ohne Phil anstellen, weil Queen eben auch darüber nachdachten, einen Nachfolger für Freddie Mercury zu finden. Er sagte damals zu mir: „Tough gig for you“. Sie brachten dann später Paul Rodgers rein, eher ein straighter Rock-Typ, ganz anders als Freddie. Fand ich nicht schlecht. Hat irgendwie funktioniert. Adam Lambert hatte dann später schon eher ein Flair, das an Freddie erinnerte. Auch ein wunderbarer Sänger, mir persönlich hat es mit Paul besser gefallen. Mit mir und Genesis ist das ähnlich gelaufen.
Waren die Songs für „Calling All Stations“ schon fertig, als zu dazu gestoßen warst?
Es gab schon viele musikalischen Ideen. Aber noch nicht die Lyrics, noch keine Melodien. Da wollten sie abwarten, bis der Sänger feststeht. Als wir dann das erste Mal im Studio waren, saß ich da mit all diesen Legenden und musste ohne Lyrics, ohne Guidelines, ohne Melodien improvisieren. Ich sollte einfach singen, was mir spontan in den Sinn kam. Zum Glück hatte ich da genug Selbstvertrauen. David Longdon sagte dieses Prozedere nicht zu, wie ich hörte. Deshalb war am Ende auch ich der alleinige Sänger.
Heute bezeichnet man „Calling All Stations“ als Flop. Dabei war es kommerziell gar nicht so erfolglos …
Es hat sich mehr als 1,5 Million Mal verkauft. Das ist eigentlich nicht schlecht. Wenn einem das heute gelingen würde, wäre man absolut euphorisch. Aber es war eben der Nachfolger zum erfolgreichsten Genesis-Album überhaupt, „We Can’t Dance“. Und Phil Collins war damals solo auf dem Zenit. Da konnten wir in der öffentlichen Wahrnehmung einfach nicht gewinnen. Es war ein unmögliches Unterfangen, schon bevor wir überhaupt losgelegt hatten. Wir hätten vielleicht von Anfang an nicht auf kommerziellen Erfolg schielen sollen. Vielleicht auch lieber Clubs als Arenen bespielen sollen. Oder den Namen der Band ändern sollen, was kurz mal diskutiert wurde. Sprich: Wir hätten es organisch wachsen lassen sollen. Aber das ist Makulatur. Ich bin drüber hinweg und bin da, wo ich jetzt stehe in meiner Karriere, glücklich.
So lief das Aus bei Genesis
Wie wurde dir denn dann das Ende in der Band kommuniziert? Die eigentlich geplante US-Tour wurde dann ja abgesagt.
Wir hatten 45 Shows in Europa gespielt, inklusive „Rock am Ring“ und „Rock im Park“. Dann war eine US-Tour angesetzt, die aber wohl zu überdimensioniert geplant und letztlich abgesagt wurde. Dann sind wir unterschiedliche Wege gegangen, ich produzierte ein eigenes Album mit Songs, die ich vor Genesis geschrieben hatte. Die Idee war aber, uns nach einem Jahr wieder zusammenzutun und an einem zweiten Album zu arbeiten. Doch schließlich bekam ich einen Anruf von Genesis-Manager Tony Smith, der mich darüber informierte, dass es das mit dem Projekt war. Mike Rutherford sah in einer Fortsetzung keinen Sinn mehr.
Hat dich das überrascht, dass sie dann ein paar Jahre später wieder mit Phil unterwegs waren?
Nein, das hatte so schon Sinn ergeben. Und da hatte wohl auch ordentlich die Kasse geklingelt. Neue Songs gab es aber von Genesis nicht mehr. Die letzten Genesis-Songs waren die mit mir.
Wie ist deine Beziehung heute zu den Jungs? Du warst Teil eines Buchprojekts, nicht aber der Genesis-Doku …
Peter habe ich nie getroffen, Phil ein paar Mal. Insgesamt gab es nie großen Kontakt. Wenn es da ein Projekt gab, bei dem Genesis mich dabei haben wollten, gab es einen Anruf. Wie etwa bei dem Buch. Da hatte ich erst kein Interesse dran, Tony Banks hat mich dann aber überredet, mir gesagt, er wolle mich dabei haben, weil ich ein wichtiger Teil der Band-Geschichte sei. Bei der finalen Abschiedstour war ich total außen vor. Das ist auch verständlich, das Marketing sollte sich komplett auf Phil konzentrieren. Immerhin war er der Frontmann der kommerziell erfolgreichsten Ära der Band. Auch Peter Gabriel war ja bei der Abschiedstour nicht dabei, vielleicht wollte er auch nicht. Oder Steve Hackett.
Aus dem Loch gekämpft
Du sagtest mal, die ersten zwei Jahre nach dem Genesis-Aus seien hart gewesen. Trotzdem hast du nie einen verbitterten Eindruck gemacht. Wie bist du danach wieder auf die Füße gekommen?
Ein paar Jahre fühlte ich mich schon orientierungslos, ich wusste nicht so recht, wie es weitergehen sollte. Natürlich hatte ich auch mal meine Momente der Bitterkeit, aber verbittert bin ich nicht. Am Ende des Tages ist es eben auch ein Business. Mir war aber klar, dass es nach Genesis eher bergab als bergauf gehen würde. Wenn man der Sänger einer der größten Bands der Welt war, macht man danach nicht den nächsten Schritt nach oben, sondern nach unten. Wie ein Alkoholiker muss man dann einfach den Tatsachen irgendwann ins Auge sehen. Und wenn man die Realität akzeptiert hat, kann man auch wieder nach vorne blicken und etwas aufbauen.
Das habe ich gemacht. Ich habe wieder mit kleineren Auftritten angefangen, ein paar Akustik-Shows in einer Bar in Edinburgh. Es waren elf Shows, am Anfang waren da 40 Leute, dann 50, am Ende hätten wir 500 Tickets verkaufen können. So hat sich das dann langsam wieder aufgebaut. Dann habe ich angefangen, Akustik-Arrangements von ein paar Genesis-Songs und von Peter Gabriel zu machen. Auch ein paar Songs für ein neues Album („Change“) hatte ich beisammen. Dazu ein paar Lieder aus der Stiltskin-Zeit und solo von mir, und plötzlich hatte ich da ein zweieinhalbstündiges Programm. Garniert mit ein paar Stories, angereichert durch schottischen Sarkasmus, der gerade in Deutschland gut ankommt. Deutschland hat sich dann als ein ganz gutes Pflaster für mich entwickelt.
Ich habe also einfach meine Qualitäten erkannt und mich entsprechend aufgestellt. Seither habe ich unheimlich viel gemacht, alleine, mit der Band, oder mit anderen Künstlern wie den Scorpions, Saga, Roger Hodgson, Dolores O’Riordan oder Armin van Buuren zusammengearbeitet. Ich habe diese 20 Jahre nach Genesis sehr genossen. Auch weil ich selbst die Kontrolle über mein Schicksal habe. Ich führe ein gutes Leben und bin glücklich.
Wilson über Stiltskin
Stichwort Stiltskin. Deine Karriere vor Genesis. Du hast die Band Anfang der Nuller Jahre wieder reformiert, mit anderem Line-Up. Wie sieht der Status der Band heute aus? Gibt es da die Chance, etwas unter dem Banner zu veröffentlichen, wo wir gerade dieses 1990er-Jahre-Revival haben?
Der Stiltskin-Name ist gut, wenn ich etwas veröffentlichen will, dass ein bisschen härter in der Gangart ist. Auch in Abgrenzung zu Genesis. Die Musik von Stiltskin kommt dem sehr nahe, was ich selbst gern höre, was meiner Seele gut tut. Da könnte also durchaus noch etwas in der Richtung passieren.
Warum sind die Leute denn heute wieder so von den 1990er Jahren fasziniert?
Damals waren noch richtige Bands unterwegs, die Musikindustrie war noch eine andere. Ab den 2000ern hat sich das verändert. Jetzt, im Streaming-Zeitalter, würde ein Label nie wieder so viel Geld in eine Band investieren wie damals. Und dabei auch mal Misserfolge, drei, vier Alben lang, aushalten, bis sich so eine Band gefunden hat. In den 1990ern gab es noch Oasis, Blur, Radiohead. Es gab auch noch eine gewisse Qualitätskontrolle. Heute kann jeder alles veröffentlichen, das ist einerseits gut, aber der Markt wird auch mit viel Mist geflutet. Das Gute ist immer schwieriger zu finden. Und dann sucht man sich das Gute in der Vergangenheit. Die 1970er und 1990er waren in Sachen Rock für mich die besten Jahrzehnte.
Liegt es vielleicht auch daran, dass wir in Zeiten der Multikrisen uns in diese sorgenfreien 1990er zurücksehnen? Ist das Eskapismus?
Musik ist immer eskapistisch. Ich glaube, dass Leute immer gute Gefühle bekommen, Wärme spüren, wenn sie Musik hören, mit der sie aufgewachsen sind. Die sie an ihre Jugendzeit erinnert. Und dann gibt es natürlich die jungen Leute, die die 1990er erst jetzt für sich entdecken. Auf die bin ich neidisch. Ich wünschte, ich könnte diese Musik für mich auch nochmal neu entdecken und zum ersten Mal hören. Radiohead, Jeff Buckley. Das hat mich damals inspiriert. Heute inspirieren mich hingegen der ganze crazy shit, Kriege, Ungerechtigkeiten. Ich wünschte, mich würde wieder Musik inspirieren, wie damals.

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