Alphaville (foto: warner music)

My Soundtrack: Marian Gold (Alphaville)

Ein deutsches Pop-Wunder: Mit ihrer Debüt-Single „Big in Japan“ eroberten Alphaville 1984 die Charts rund um den Globus. Die Nummer landete nicht nur sofort auf Platz eins der deutschen Charts, sondern ging auch in Schweden, der Schweiz, dem UK und in den US-Billboard Dance-Charts steil. Ein ewiger Hit der Achtziger Jahre. Das dazugehörige Album „Forever Young“ hat Warner Music gerade mit einer neuen Super Deluxe Edition gefeiert. Und während sich die Band gerade auf Tour befindet, um das schmucke Stück zu bewerben, hat sich Frontmann Marian Gold Zeit für unsere „My Soundtrack“-Reihe genommen.


Freddy Quinn – Mary Ann

 „Er schwor’s als Kapitän, doch sie wurde sein Grab.“

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Freddy Quinn – „Mary Ann“

Es war das Jahr 1959 und ich 5 Jahre alt. Über Deutschland hing noch immer der Dunst von Bombennächten, Flucht und Kriegsheimkehrern, vermischt mit der Partylaune des aufflammenden Wirtschaftswunders und den Nachrichten von Blindgängern in Hinterhöfen und Schrebergärten. Im Wohnzimmer stand unsere Musiktruhe, ein riesiges, hölzernes Trumm, bekrönt von einem schweren Radioempfänger mit grünglühendem magischem Auge, großen braunen Bakelitdrehreglern, elfenbeinschimmernder Tastatur und dem tiefgelb glimmenden Suchfeld voller Namen von fernen Sternen: Moskau, AFN Stuttgart, Stimme USA, Kalundborg, Welsh Reg., Paris Hambg., Droitwich, Berlin Ost. Darunter dann der Schallplattenspieler, bei dem man nach jeder Anwendung die Nadel auswechseln sollte. Und noch eine Etage tiefer, hinter zwei messingverzierten Klapptüren, die Schallplatten, gewichtige 12“ Hochgeschwindigkeits-Schellackplatten. Es gab Conny Froboess, Kurt-Adolf Thelen mit dem Golgowsky-Quartett, Lys Assia, Chris Howland und Vico Torriani. Die Lieder hießen „Möwe, grüß mir die Heimat“, Lieber Gott, lass die Sonne wieder scheinen“, Kriminaltango“, „Am 30. Mai ist der Weltuntergang“: ein Abriss jener Zeit im Telegrammstil.

Und dann gab es noch Freddy Quinn. Freddy, der mädchenbetörende Kap’tän, der singende Indiana Jones Nachkriegsdeutschlands, der bärenstarke Hamburger Jung‘, der Jesus of Cool, aber diesen Ausdruck gabs noch nicht. Gleiches galt für das Wort „Authentizität“. Das war, obwohl schwul und aus Wien stammend und Wind und Wogen eher abgeneigt, mein Freddy, authentisch im besten Sinne des Superstardoms, also im umgekehrt proportionalen Sinne. Und das Lied, das es mir am meisten angetan hatte, war „Mary-Ann“, in dem Freddy von einem Teufelskerl von Seemann erzählte, dem die Treue zu seinem Schiff zum Verhängnis wird. „Mary-Ann“ war die deutsche Version von „Sixteen Tons“, auch im Original ein großartiges Lied, aber es war Freddys Interpretation, die mich mit Haut und Haaren packte. Dieses Gefühl kompletter Glückseligkeit und Verstehen und Verstandenwerden, wenn Du es einmal gespürt hast, willst Du es wieder erleben, Du weißt es nur nicht.


Martin Böttcher – Old Shatterhand Melodie

„Gold! Gold! Gold! Gold! Gold..!“

1962. Seitdem ich lesen gelernt hatte, las ich mittlerweile 8-jähriger alles, was mir vor die Flinte kam. Alles von Enid Blyton über Deutsche Heldensagen bis zu Grimm’s Märchen. Ich las die ganzen Krimis, die in schwarz-weiß gestreiften Paperbacks im Bücherschrank meiner Eltern standen, ich las die „Angelique“-Romane aus der Sommerferienlektüre meiner Mutter, die „James-Fenimore-Cooper“-Gesamtausgabe meiner Schwester, ich las „Perry Rhodan, der Erbe des Universums“, „Liebe auf krummen Beinen“ und natürlich Karl May. Und als Weihnachten 1962 die Verfilmung von „Der Schatz im Silbersee“ in den Kinos anlief, besuchte ich supergespannt zusammen mit meiner Schwester eine ausverkaufte Vorstellung im Capitol Kino meiner Heimatstadt Herford. Seitdem sind in meiner Vorstellung Lex Barker/Old Shatterhand als Perry Rhodan und Pierre Brice/Winnetou als sein ausserirdischer Gefährte Atlan fest eingebrannt.

Der Film gefiel mir ganz gut, aber was mich wirklich auf Anhieb wegpustete, war der zugehörige Soundtrack von Martin Böttcher, insbesondere die „Old Shatterhand Melodie“. Schwelgende Melodien durchwirkten die kosmische Weite des wilden Westens, sie umspielten den weissen Lichtstrahl des Projektors, der Giganten erschaffte, die im Close-up von der Leinwand auf uns Winzlinge, meine Schwester und mich, herunterblickten wie Götter oder riesige Dämonen. Dieser Aspekt von Musik war mir absolut neu, er war schockierend und gleichzeitig überwältigend. Wenn es so etwas wie Pathos oder Grandezza in Alphavilles Musik geben sollte, dann begann es hier.


David Bowie – Five Years

„Pushing through the market square…“

David Bowie – Five Years

September 1972. Die Sommerferien sind zu Ende, der Internatsalltag beginnt mit  seinen nervigen Routinen. Aber noch ist das Nachglühen des Sommers in mir, die Reisen, die Abenteuer und Liebesromanzen, das ganze Glück der Sonne. Da überreicht mir ein Mädel aus der Parallelklasse ein Album mit Verschwörermiene. Ich soll da mal reinhören, sie glaubt, das könnte mir gefallen. Und ich kann nicht glauben, was ich da höre, ich kann mich nicht satthören. Das erste Stück der Platte, startet mit einem taumelnden Half-time-beat, superschlicht – Bassdrum, Snare, Hihat –   schiebt sich aus dem Nichts, allmählich lauter werdend, in den Vordergrund. Dann, nach sieben Takten, fällt wie unabsichtlich ein Akkord aus akustischer Gitarre und Klavier in diesen Beat hinein, es ist, als ob ein Vorhang aufgeht und, sozusagen in der Mitte dieses Akkords, erscheint eine Stimme, wie ich sie noch nie zuvor gehört hatte. Es war nichts Lautes an dieser Stimme, nichts Drängelndes, keine große Geste. Wenn man ihr eine Gestalt geben wollte, sie wäre ein Spaziergänger von schmaler Statur, Hände in den Hosentaschen, die Umgebung mit nachlässiger Neugierde betrachtend, trotz der Tatsache, daß diese Umgebung, wie man im weiteren Verlauf des Songs erfährt, das Ende der Welt ist.

Aber es war nicht die nonchalante, erotisierende Distanz, die diese Stimme zu etwas Einzigartigem machte, obwohl sie schon allein deswegen grandios war, sondern es lag eher daran, daß der Besitzer dieser Stimme offensichtlich von einem anderen Stern stammte. Es war wie eine Begegnung der dritten Art. Und diese Feststellung bedeutete selbstverständlich, daß alles, was nun folgen würde auf diesem Album, ganz ausserordentlich ungewöhnlich und beglückend werden würde. Es bedeutete, daß man sich in jedem der folgenden Lieder irgendwie wiederfinden würde, geleitet auf glitzernden Pfaden von diesem Alien namens David Bowie. Man würde sein wie er, das einsamste Wesen des Universums, von dem man aber bis gerade eben nicht wusste, daß man es war. Doch nun war man es. Ein Solitär. Einzigartig.


David Essex – Stardust

„Ah, look what they’ve done to the rock ’n‘ roll clown…“

David Essex – Stardust

1974 war ein Scheiß-Jahr, das muss man so sagen. Mein Mädel hatte mich verlassen, ich war durchs Abitur gerasselt, der Schule verwiesen und meinen Wagen hatte ich auch noch zu Schrott gefahren. Grund genug, in bodenlosem Selbstmitleid zu versinken. Eigentlich sollte man in so einem Zustand alles daransetzen, wieder fröhlicher zu werden, aber irgendwie machte es mir mehr Spaß, noch trauriger und noch wehleidiger zu sein. Dazu gehörte insbesondere das Abfeiern trauriger Romane, trauriger Filme und trauriger Musik. Meine Lieblingsfilme in dieser Zeit waren „The Great Gatsby“ mit Robert Redford und „Citizen Kane“ mit Steve McQueen. Und mein Lieblingslied war „Stardust“ von David Essex. Es verschaffte mir die Möglichkeit, mich trotz allen Elends wie ein einsamer Held zu fühlen, etwa  wie Kowalski in „Vanishing Point“.

Der Song selbst war titelgebender Teil eines tragisch endenden RocknRoll-Dramas mit Essex in der Hauptrolle, von der Geschichte her die Verfilmung von Bowies „Ziggy Stardust“: Du ackerst an Deiner Karriere als Musiker, steigst auf zum Superstar und stürzt schließlich ab in Drogensucht, Einsamkeit, Vergessen und Tod. Immer wieder ein großes Thema, die Blaupause dafür lieferte Janis Joplin. Für einen Jugendlichen im zarten Alter von 20 Jahren, zwar kein bißchen berühmt aber sehr motiviert, war es verführerisch, sich in so eine Rolle hineinzuspielen. Es war ein Spiel, das man nicht übertreiben sollte. Ich war nah dran, es zu übertreiben und zwar, weil die positive Seite dieses Spiels sprudelnde Kreativität ist. Damals wollte ich Maler oder vielleicht Schriftsteller werden und beides, schreiben wie malen, ging mir so leicht von der Hand, wie nie zuvor. Das Unglücklichsein kann ein wirklich wunderbarer Treibstoff sein, vor allem, wenn man den richtigen Soundtrack, David Essex sei’s gedankt, dafür hat. Und 1974 war irgendwann vorbei. So gegen 1977…


The Rocky Horror Picture Show

„Michael Rennie was ill the day the earth stood still.“

aus „The Rocky Horror Picture Show“

1977 war eine tolle Zeit. In meiner Erinnerung herrschte das ganze Jahr über Sommer. Wir feierten in Kreuzberg, in der Hasenheide oder im Tiergarten, und immer schien die Sonne, auch nachts. Eines Abends zogen wir den Kottbusser Damm runter, Richtung Paul-Linke-Ufer und vor einem kleinen Bezirkskino namens Tali standen eine Menge Leute rum in wirklich witzigen Klamotten. Einige hatten volle Bierkästen dabei. Ob sie mit den Kästen da rein wollten? Ja, klaro, wollten sie und das durften sie anscheinend auch. Wir also mit. Der Film sollte lustig sein und angeblich konnte man sogar rauchen. Ich saß erwartungsvoll ganz am Rand der mittleren Reihe, ich weiß es noch genau. Die Stimmung war großartig; Joints kreisten, ich wurde zu allem möglichen eingeladen, es fühlte sich alles familiär und freundlich an, ein echtes Happening. Dann wurde es dunkel. Auf der Leinwand erschien ein riesiges Paar roter Lippen. Musik erklang. Die Lippen begannen zu singen. Sie hielten mich in ihrem Bann. Und da war sie wieder, diese beseligende Ahnung, daß gleich etwas Aussergewöhnliches passieren würde, etwas, das meinem Denken und meinem Lebensgefühl einen neuen Dreh verpassen würde. Das war so dermaßen klar, das war mitternachtssonnenklar.

Dann überstürzten sich die Ereignisse, sowohl was die Handlung auf der Leinwand, als auch was die davor betraf. Das ganze durchgeknallte Ensemble der Rocky Horror Picture Show rockte, tanzte und sang zusammen mit den ganzen durchgeknallten Punks im Publikum, die Grenze zwischen Film und Wirklichkeit löste sich auf. Ich muss vollkommen geplättet ausgesehen haben, das Mädchen neben mir fragte: „Bist zum ersten Mal hier?“ Es war aber auch zu schön. Es war wie damals vor langer, langer Zeit mit Freddy und Mary-Ann. Es wird wird immer einen Freddy geben, immer eine Mary-Ann und immer wieder einen neuen Dreh. Man weiß nicht, wofür es gut ist, aber es hat seinen Sinn, es wirkt sich immer irgendwie aus. Unser Leben ist zart betupft mit solchen Momenten, sie sind selten, wir sollten sie schätzen, indem wir sie nicht vergessen. Und dabei hilft immer ein gutes Lied.

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