Musikalische Vergangenheitsbewältigung: Auf ihrem 21. Studioalbum „Negative Capability“ schlägt die große Marianne Faithfull düstere Töne an.
Der Name Marianne Faithfull ist untrennbar mit einer der heißesten Phasen der Popgeschichte verbunden. In den sechziger Jahren gehörte sie zu den schillerndsten Persönlichkeiten Londons. Faithfull war eine Frau, die ob ihres Styles und ihrer Schönheit von allen Seiten bewundert wurde. Selbst Mick Jagger war von der jungen Dame fasziniert, ja, geradezu elektrisiert. Er und sein Rolling-Stones-Kollege Keith Richards schrieben ihr 1964 den ungeheuer melancholischen Song „As Tears Go By“ auf den Leib. Ein unwahrscheinlicher Welthit, der aus dem Munde einer 17-Jährigen eigentümlich erschien. Dann aber folgte der harte Absturz: Trennung von Mick Jagger, Drogensucht, Obdachlosigkeit, ein Selbstmordversuch. Die siebziger Jahren waren für Faithfull ein mieses Jahrzehnt. Den ganzen Schmerz und die aufgestaute Wut verarbeitete sie 1979 in dem Album „Broken English“. Ein gelungenes Comeback. Auch wenn die Drogensucht noch längst nicht überwunden war. Seither veröffentlicht die Gute immer mal wieder Alben, erlebt aber auch immer wieder Rückschläge. Wie ihre Brustkrebserkrankung im Jahr 2006. Oder ihre Hepatitis-C-Erkrankung.
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Vielleicht bedeutet ihr ob dieser Schicksalsschläge folgender Satz des Poeten John Keats so viel: „Negative Capability bedeutet, dass der Mensch mit dem Ungewissen leben kann. Mysterien und Zweifel, ohne dass man nach Fakten und Vernunft verlangt.“ Und so war ein passender Albumtitel für jenes nun vorliegende Werk gefunden, in dem Faithfull unerschrocken und ehrlich Bilanz ihres Lebens zieht. Es geht dabei viel um den Verlust alter Freunde, die Einsamkeit in ihrer Wahlheimat Paris und über die Liebe.
Die Platte ist ziemlich düster geraten
Die ziemlich düster geratene Platte hat gleich mehrere Glanzlichter zu bieten. Da ist etwa die herzzerreissende Neuinterpretation von „As Tears Go By“, das aus dem Munde einer älteren Frau authentischer klingt. Oder eine neue Fassung von „Witches“. Auch das neu eingespielte „It’s All Over Now, Baby Blue“ (Bob Dylan) geht unter die Haut.
Doch Faithfull beschränkt sich hier zum Glück nicht auf Neuinterpretationen alten Materials: Das als erste Single ausgekoppelte „The Gypsy Fairie Queen“ etwa wurde von Shakespeares „Midsummer Night’s Dream“ inspiriert. Das Ding hat sie mit Nick Cave geschrieben, der auf dem Song nicht nur in die Tasten greift, sondern mit Faithfull auch am Mikro steht. „Es ist ein kleines Wunder“, sagt Marianne. „Ich fragte Nick, ob er Musik machen würde und er schrieb zurück und sagte: ‚Ich bin so beschäftigt‘. Ich sagte: ‚Ich verstehe, Entschuldigung, dass ich dich belästige‘. Dann schrieb er einfach zurück: ‚Vielen Dank für Dein Verständnis, hier ist das Lied‘. ‚Es ist einfach wunderschön‘.“ In der Tat.
Cave war nicht der einzige große Namen, der Faithfull auf diesem Album zur Hand ging: Mark Lanegan stand beim düsteren „They Come At Night“ Pate, das vom Anschlag auf das Bataclan erzählt. Waren Ellis ist gleich auf mehreren Stücken mit von der Partie und Ed Harcourt supportete Faithfull bei „Don’t Go“. Und so ist am Ende eine richtig runde Platte entstanden, bei der man unweigerlich den Vergleich zu den Spätwerken eines Johnny Cash oder eines Leonard Cohen ziehen muss.
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