Freudiges Wiedersehen: 18 Jahre nach ihrem bis dato letzten Auftritt in Deutschland machten die Cardigans hierzulande endlich mal wieder Station. Beim Zeltfestival Rhein-Neckar in Mannheim ließen die Schweden am Samstag die 1990er-Jahre vor einem überaus dankbaren Publikum aufleben.
Die Sorglosigkeit. Wenn man Menschen fragt, was sie an den 90er-Jahren am meisten vermissen, hört man oft genau diese Antwort. In keinem anderen Jahrzehnt konnte man sich so glaubhaft in die eigene Tasche lügen wie in diesem. Dem Jahrzehnt der Entgrenzung, sowohl politisch als auch gesellschaftlich. Nach dem Fall der Mauer, der Wiedervereinigung sowie der Zerbröckelung der Sowjetunion rückte die Welt damals zumindest gefühlt enger zusammen. Man konnte sich plötzlich eine gute Portion Hedonismus leisten. Man wurde nicht ständig dazu gedrängt, zu allem und jedem eine Haltung einzunehmen, durfte unpolitisch sein. Hatte nicht Francis Fukuyama ohnehin 1992 postuliert, dass wir am Ende der Geschichte angelangt seien und sich die Prinzipien des Liberalismus, sprich: Demokratie und Marktwirtschaft, nun global durchsetzen würden? Da brauchte es ja unser Zutun nicht weiter. War natürlich alles Quatsch, kam natürlich alles anders, Konflikte gab es auch, die wurden aber alle mehr oder weniger euphorisch wegignoriert.
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Dass man sich jetzt, in Zeiten der multiplen Krisen, die von Klimakatastrophe über Ukraine-Krieg bis hin zur Inflation reichen, in eine derlei sorglose Lebensphase zurücksehnt, ist nicht überraschend. Wahrscheinlich sind genau deshalb die 90er-Jahre wieder in Mode, buchstäblich, sieht man doch allerorts junge Menschen wieder in bauchfreien Tops, Plateau-Sneakern oder Jeans-Mänteln umherstolzieren.
Die 1990er sind wieder en vogue
Im Pop, dieser ewigen Wiederverwertungsmaschine, sind die 1990er-Jahre schon seit geraumer Zeit wieder „in“. Die Backstreet Boys und NSYNC sind wieder da, Netflix gönnte Robbie Williams gleich eine ganze Dokuserie, und bei der CDU ist Friedrich Merz plötzlich Frontmann und spielt auch wieder viele Hits der Zeit.
The Cardigans passen in diese Phalanx ganz gut rein. Aus dem südschwedischen Jönköping heraus eroberte die 1992 gegründete Kapelle die Welt, entwickelte sich zu einem der erfolgreichsten Pop-Exporte des Landes nach ABBA und Roxette – ohne aber so auf Hochglanz poliert wie diese gewesen zu sein. Die Band hatte sich in dem ganzen Pop-Zirkus stets eine gewisse Kantigkeit bewahrt, umarmte nicht nur den Mainstream, sondern flirtete auch mit dem Alternative-Publikum. Die Tatsache, dass die Gründungsmitglieder Peter Svensson und Magnus Sveningsson aus dem Heavy-Metal-Bereich rübermachten, hat da sicherlich geholfen. Mit Nina Persson hatte die Band dann auch noch eine charismatische, wohl klingende Frontfrau am Start. 15 Millionen Alben hat die Gruppe verkauft, konnte es sich zu Hochzeiten sogar leisten, das Angebot auszuschlagen, einen Song für einen James-Bond-Film aufzunehmen.
Kein neues Album geplant
Also reiten die Cardigans eben auf der Nostalgie-Welle mit, geben hier und da Konzerte und das nun endlich auch wieder mal in Deutschland. Und durchaus auch mit Lust, wie in Mannheim zu erleben war. Nina Persson, die erst im grünen Anzug, später im Kleid auf der Bühne unterwegs war, hat stimmlich nichts von ihrer Magie eingebüßt. Im Gegenteil: Die mittlerweile 49-Jährige verfügt heuer über ein leicht rauchiges Organ, das viele Songs der schwedischen Strickjacken reifer und noch spannender klingen lässt.
Das Debüt ignoriert
Die Setlist setzte sich an diesem Samstagabend beim Zeltfestival aus Material von fünf der sechs Cardigans-Alben zusammen, einzig das Debüt „Emmerdale“ ließ die Band bei der Programmzusammenstellung außen vor. Mit je sechs Songs dominierten dabei der Bestseller „Gran Turismo“ und „Long Gone Before Daylight“, wobei die Glanzlichter diesmal durchaus von letztgenannter Platte stammten. „Live and Learn“, „You’re the Storm“ und „Feathers and Down“ waren bockstark.
Die größte Begeisterung gab’s, klar, bei den Megahits. „Erase/Rewind“ spielte die Band einigermaßen früh, „Lovefool“ (aus „Romeo + Juliet“ mit Leonardo DiCaprio) und „My Favourite Game“ hatten sich die Cardigans fürs große Finale aufgehoben. Der Applaus natürlich riesig, und das verdient. Für etwas mehr als anderthalb Stunden war man plötzlich wieder in die 90er-Jahre eingetaucht. Das Ende der Geschichte wurde durch dieses One-Night-Only-Revival zwar nach allem Dafürhalten nicht erreicht, für einen mehr als vergnüglichen Abend taugte es aber allemal. So ein bisschen Eskapismus hat schließlich noch keinem geschadet.
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