Mit ihren melancholisch-vergangenheitsverklärenden Songs passt die Band Juli gut in die Zeit. Selten hat das abgedroschene „Früher war alles besser“ ja besser gepasst als heute. Und so feierten die Gießener am Samstag in knapp 80 Minuten bei „Jazz & Joy“ auf dem Wormser Marktplatz ausgelassen das Gestern. Und das Publikum feierte mit.
Juli wurden gecancelled. Und das, als der Begriff „canceln“ im deutschen Sprachgebrauch so noch gar keine tragende Rolle spielte. Noch lange bevor täglich eine andere Sau durchs virtuelle Dorf getrieben wurde. Gecancelled, und das im Vor-Social-Media-Zeitalter – ein kleines Kunststück. „Das ist die perfekte Welle/Das ist der perfekte Tag/Lass dich einfach von ihr tragen/Denk am besten gar nicht nach“. Klingt ja eigentlich recht unverdächtig, der Refrain der überaus erfolgreichen Debütsingle der Band. Aber der Text war tatsächlich der Grund, weshalb der im Juni 2004 veröffentlichte Song gegen Ende desselben Jahres aus den meisten deutschsprachigen Radiosendern verbannt wurde.
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„Perfekte Welle“ plötzlich pietätlos
Was war passiert? Ein Erdbeben im Indischen Ozean. Das Beben löste mehrere Tsunamis aus, mehr als 110.000 Menschen wurden dabei verletzt, über 1,7 Millionen Küstenbewohner wurden obdachlos. Allein in Indonesien starben rund 165.000 Menschen, auch in Sri Lanka, Thailand und Indien gab es hohe Todeszahlen. Insgesamt geht man heute von rund 230.000 Menschen aus, die bei oder in Folge dieser Naturkatastrophe starben. Songzeilen wie „Jetzt kommt sie langsam auf dich zu/Das Wasser schlägt dir ins Gesicht/Du kannst nicht glauben, dass sie bricht“ wirkten unter dem Eindruck der Ereignisse plötzlich pietätlos.
Die Band zeigte für diesen vorübergehenden Bann übrigens Verständnis. Sie war ja auch nicht allein: „Auch ,Die Flut’ von Witt/Heppner und ,Land unter’ von Herbert Grönemeyer werden vorerst nicht mehr gespielt“. meldete der „Spiegel“ damals. So betroffen sich die Radiosender seinerzeit zeigten: „Geile Zeit“, so hieß der eigentlich aktuelle Juli-Song damals, verblieb bei den meisten Rundfunkanstalten in der Rotation. Da wollte man nun offensichtlich nicht päpstlicher sein als der Papst …
Auftakt zu einer Neuen Neuen Deutschen Welle
Heute verbindet man „Perfekte Welle“ natürlich nicht mehr in erster Linie mit der Flutkatastrophe, sondern sieht in dem Song einen der Wegbereiter für die Wiederentdeckung der deutschen Sprache in der Popmusik Anfang der Nuller Jahre. Zu dieser, nun ja, Neuen Neuen (!) Deutschen Welle gehörten seinerzeit auch Bands wie Wir sind Helden, Silbermond oder Sportfreunde Stiller, besonders findige Journalisten-Kollegen prägten damals den Begriff „Neue deutsche perfekte Welle“. Wirklich haften blieb der aber nicht, und auch Juli fanden die Vergleiche mit ihren deutschsprachigen Kollegen immer anstrengend. Zutreffend waren sie trotzdem.
Nachdem die Band die Erfolgswelle in den ersten zehn Jahren des neuen Jahrtausends so richtig geritten hatte, hatte sie sich in den vergangenen 14 Jahren dann doch auch die eine oder andere längere Pause gegönnt. 2023 erschien dann mal wieder eine neue Platte, „Der Sommer ist vorbei“, erst Album Nummer fünf. An das vierte, „Insel“, konnten sich da schon nur noch die älteren Semester erinnern, waren doch seither stolze neun Jahre ins Land gezogen.
Viel neues Material dabei
Oft ist es ja so, dass Bands, die schon eine Weile auf dem Buckel haben, neues Material eher stiefmütterlich behandeln und es nur in homöopathischsten Dosen in die Live-Setlists einbauen. Bei Juli ist das aber überraschend anders. In Worms nimmt das neue Machwerk sogar den Spitzenplatz ein, aus keinem anderen Album werden bei diesem Auftritt so viele Songs gespielt. Auch der stärkste Song der Nacht (das Konzert begann erst gegen 22.30 Uhr) war ein neuer: „Wolke“, bei der Sängerin Eva Briegel nicht nur sang, sondern ausnahmsweise auch in die Keyboard-Tasten griff.
Natürlich, am ausgelassensten war die Stimmung bei den beiden großen Hits, „Geile Zeit“ und „Perfekte Welle“. Letzteren unterbrach Briegel durch ein lautes „Stopp“. Sie forderte das Publikum auf, die Handys doch mal wegzupacken und lieber vollkommen im Moment zu sein. Ein allzu schlechtes Gewissen müssen die Wormser nun aber nicht haben. Zumal sie mit ihren Smartphones in Wirklichkeit vergleichsweise zurückhaltend waren. Die Nummer ziehen Juli derzeit auf allen Konzerten durch.
Einfach mal im Moment sein, im Hier und Jetzt – da haben Juli natürlich einen Punkt. Ist man viel zu selten. Aber ironischerweise geht es bei der Band ja meist gar nicht um das Hier und Jetzt, sondern eher um das Gestern und die Erinnerungen daran, diese bittersüße Nostalgie, die so vielen ihrer Songs innewohnt. Da hätte es diesen „Wellenbrecher“ also gar nicht gebraucht.
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