Im eigenen Wohnzimmer um 24 Uhr ein Livekonzert am Bildschirm zu verfolgen? Für einige Konzertbegeisterte mag das nicht das sein, was sie sich von einem Event erhoffen. Auch ich habe mich gefragt, ob es möglich ist, auf diese Weise die Energie eines Autrittes einzufangen. Ob trotzdem irgendwie ein Livegefühl aufkommt. Daher haben wir den Test gemacht – beim „Where Do We Go“-Livestream von Billie Eilish.
Steht man vor einer Bühne, während Aufbau und Soundcheck, hat man vor einem Gig bereits das Gefühl, ein Teil von allem zu sein. Erste Drum- und Basstöne fließen durch den Körper. Der Puls steigt. Alle möchten, dass es endlich losgeht. Bei Billies Livestream verfolgt man zunächst erst mal einen Schnelldurchlauf des Bühnenaufbaus, der zugegebenermaßen ziemlich imposant daher kommt. Billie selbst, ihr Bruder Finneas und Drummer Andrew Marshall werden umgeben sein von riesigen Leinwänden, auf denen noch kaum zu erahnende Bilder erscheinen werden, die einen durch neueste XR Technik ein ganz neues Konzert-Erlebnis bringen sollen. Doch bevor man sich fragen kann, ob Billie auf dieser Bühne nicht untergehen wird, erscheint ein Countdown. Billie ruft „Everybody at home … we’re live!“. Und plötzlich geht es los. Der Puls ist aber irgendwie noch im Ruhezustand.
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Kein Herz für Arachnophobiker
„Bury a friend“ macht den Anfang. Das rot pulsierende Licht ist auf den Takt abgestimmt. Und bevor man sich sicher sein kann, ob die anfängliche Skepsis noch angebracht ist – schaust Du noch, oder bist Du schon Teil der Show? – kommt der erste optische Paukenschlag des Abends. Billie wird hell angestrahlt, doch statt ihres eigenen Schattens, wird an die Bühnenwand hinter ihr der Schatten eines Nosferatu-ähnlichen Monsters geworfen. Perfekt in den Song eingebettet und definitiv pulsbeschleunigend. Aber es geht noch heftiger. Es folgt „You should see me in a crown“ und jeder, der das Video kennt, weiß, dass Billie Eilish kein Herz für Arachnophobiker hat. Getreu ihrer Ästhetik werden sie und ihre Musiker nun von einer riesigen Spinne umrahmt. Das Trio auf der Bühne bleibt unbeeindruckt. Zu Hause: leichte Panikzustände. Ich glaube nicht, dass diese Bühne über einen adäquaten Staubsauger verfügt.
Nicht nur visuell überzeugend
Aber wer jetzt glaubt, dass das Konzept des Livestreams nur auf optische Effekte setzt, wird noch eines Besseren belehrt. Bei „When the party’s over“ liegt der Fokus auf Billie, die mit ihrer einmaligen Gesangstechnik brilliert. Optisch ebenfalls verhältnismäßig schlicht begleitet wird „No time to die“, bei dem sie erwachsen und elegant wie nie klingt. Im Gegensatz dazu tauchen wir bei „My future“ in die comichafte Waldidylle aus dem dazu gehörigen Video ein. Und genau dieser Wechsel zwischen den „extended reality“-Effekten und Eilishs Präsenz auf der Bühne, die so wirkt, als würde sie sich alleine für den Zuhörer hinsetzen und singen, macht diese 60 Minuten zu einer Reise in Billies ganz persönliche Ästhetik.
Es bleibt aber auch nicht bei der fantasyhaften Fauna und Flora. „All the good girls go to hell“ zeigt im Hintergrund Aufnahmen von Protesten und Bilder zum Klimawandel und nachdem das Lied endet, Finneas steht in der Mitte der Bühne, hinter ihm in riesengroßen Lettern der Satz „no music on a dead planet“, fordert Billie ihr Publikum auf, wählen zu gehen „The world is dying, people are dying. And Trump is the worst“. Wir sind in 2020, Billie Eilish fragt „Where do we go?“, singt aber auch „I’m in love with my future“, mein Herz flimmert.
Kein Publikum, kein Applaus
Während ich mich insgeheim frage, wie ich diesen fantastischen Auftritt später zu Papier bringen soll, wissend, dass jeder Zuschauer die Performance aus dem selben Blickwinkel gesehen hat, genau wie ich die Bühne als Unter-Wasser-Welt, als Sternenhimmel, in Ozeanwellen getaucht erlebt hat, erwische ich mich bei dem Gedanken, wie die 18-jährige Billie sich wohl fühlen mag. Ohne Publikum. Ohne Applaus. Und als beim letzten Lied, „Bad guy“, der Bass noch mal deutlich hoch gedreht wird und Eilish sagt „I belong […] in front of you guys, with you guys“, habe ich zum ersten mal bei einem Konzert das Gefühl, dass sowohl der Künstler, als auch eine ganze Menge an Zuschauern, sich in diesem Moment nichts sehnlicher wünschen, als genau jetzt im selben Raum zu sein. Auch wenn der Bass es in diesem Moment nicht so wie auf einem Livekonzert schafft, mir durch Mark und Bein zu gehen, lassen Billies Worte mein Herz schon wieder ein wenig höher schlagen.
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