Seit ihrem Durchbruch mit dem Song „No Roots“ (2017) hat Alice Merton viel erreicht. Gold und Platin-Auszeichnungen, Auftritte in US-Late-Night-Shows und beim Coachella Festival inklusive. Und dennoch sind da immer mal wieder diese Selbstzweifel und Unsicherheiten. Eben das thematisiert die deutsche Sängerin, die in Kanada aufwuchs, in ihrer neuen Single „Vertigo“. Das dazugehörige bildgewaltige Video ist unser Clip der Woche.
Alice Merton hatte sich so auf den Abend gefreut. Nach einem Sommer voller Shows und TV-Auftritten endlich wieder mit Freunden ausgehen, raus aus dem Scheinwerferlicht, hinein ins Halbdunkel eines Clubs. Aber schon in der Schlange vor dem Laden, in dieser kühlen Nacht, merkt sie, dass etwas nicht stimmt. Obwohl sie nur umgeben ist von Freunden oder desinteressierten Fremden, hat sie das Gefühl gemustert zu werden. Jeder ihrer Schritte, jeder ihrer Sätze wird von einer unsichtbaren Jury bewertet. Was für ein Paradoxon. Gerade noch vor einem Millionenpublikum bei „The Voice“ performt, auf riesigen Bühnen weltweit unterwegs, aber ein harmloser Clubbesuch lässt plötzlich Angst in ihr aufkommen.
anzeige
Und mit jedem Schritt in Richtung der großen Stahltür rast ihr Puls schneller, mit jedem dröhnenden Bass aus dem Inneren des Ladens geht es ihr schlechter. Ein Schwindelgefühl, ein Vertigo, zerrt an ihrem Gleichgewicht und bevor die nächste Welle des Unwohlseins auf sie zurollt, trifft sie einen Entschluss, bittet um Entschuldigung, dreht um und hastet nach Hause. Ihre Freunde sehen ihr verdutzt hinterher.
Die große Ratlosigkeit am Morgen
Am nächsten Morgen dann Ratlosigkeit: Was war denn das? Wie kann das sein, dass man es liebt vor einem aufgeheizten Publikum zu spielen, seine Seele in Lieder giesst und gleichzeitig Panik bekommt, wenn man als Privatperson ein bisschen tanzen möchte? Im Fernsehen vor Millionen von Zuschauern tough und selbstbewusst seine Meinung äußern, aber auch Angst vor den vermeintlichen Urteilen einer anonymen Masse haben? Und kann man nicht auch beides sein? Mutig und weich, selbstbewusst und schüchtern, standfest und von Vertigo geschüttelt.
Auf „Vertigo“, ihrer ersten Single in 2021, beschreibt die 27-Jährige diesen langen Weg, raus aus der Unsicherheit zurück zum Selbstvertrauen. Sie erzählt von der Unruhe, die sie immer wieder ergreift. „Why cant I just let it go?“. Der Sound ist positiv, kein Verkriechen, sondern Empowerment. Ein kraftvolles Indie-Pop-Arrangement, verzerrte Gitarren und Bläser, die an British Invasion und nicht an Selbsthilfegruppe erinnern, dazu Alice Mertons kristallklarer Gesang.
Maßgeblich verantwortlich für den Sound ist der kanadische Produzent Koz, der sonst mit Dua Lipa arbeitet. Und anderem produzierte er deren Hit „Physical“. Koz kombiniert auch hier wieder, was bereits in der Vergangenheit Alice Merton aus der Masse hat hervorstechen lassen. Ein klassisches Pop-Appeal bei gleichzeitiger Kompromisslosigkeit und Indie-Attitude.
anzeige