Tijan Sila - Radio Sarajevo (foto: Hanser Berlin)

Tijan Sila – Radio Sarajevo

Erscheinungsdatum
August 21, 2023
Verlag
Hanser Berlin
Unsere Wertung
9

Als Bosnien sich im April 1992 für unabhängig erklärte, wurde es von Serbien überfallen – so wie zuvor schon Kroatien (Mai 1991) und Slowenien (Juni 1991) – und so wie später auch der Kosovo. Der Autor Tijan Sila hat den Angriff auf seine Heimat als Zehnjähriger miterlebt. In „Radio Sarajevo“, seinem vierten Roman, schildert er seine Erlebnisse.

Als die ersten Bomben fallen, liegt Tijan Sila bäuchlings auf dem Schlafzimmerteppich und hört Radio. „Der Sender spielte David Bowies ,Sufragette City‘ als plötzlich ein metallisches Kreischen die Luft zerriss und eine Explosion unsere Vorhänge aus der Schiene blies. Ihr Druck war so gewaltig, dass mir schwarz vor Augen wurde, als hätte ich mich zu lange kopfüber vom Turnreck hängen lassen.“

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Es ist April 1992, Tijan ist damals zehn Jahre alt und das, was der Autor da in seinem Prolog zu „Radio Sarajevo“ beschreibt, ist der Beginn des Bosnien-Kriegs. Zum Hintergrund: Als die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien zerfiel, nahmen die Konflikte zwischen den ethnischen Gruppen in Bosnien und Herzegowina zu. Ein Teil der orthodoxen, serbischen Bevölkerung wollte Teil der jusgoslawischen Föderation bleiben und eng mit Serbien verbunden bleiben. Den muslimischen Bosniaken schwebte hingegen ein unabhängiges Bosnien vor. Die katholischen Kroaten aus dem westlichen Herzegowina wollten sich stärker in Richtung Kroatien orientieren.

Im Stammbaum von Tijan Sila spiegelt sich die Komplexität dieser unübersichtlichen Gemengelage wider: Seine Mutter stammte aus einer katholisch-kroatischen Familie, sein Vater aus einer bosnisch-muslimischen, während dessen Mutter wiederum eine christlich-orthodoxe Serbin war.

Eine Kindheit im Krieg

Zur militärischen Eskalation kam es, als ein Referendum über die Unabhängigkeit der Republik Bosnien und Herzegowina angekündigt und eine bosnisch-serbische Republik ausgerufen wurde. Im Grunde kämpfte jeder gegen jeden. Die bosnischen Serben wurden von Serbien unterstützt, die bosnischen Kroaten von Kroatien, die Bosniaken waren erst auf sich gestellt, bekamen später aber Unterstützung von muslimischen Staaten. Die bosnischen Serben waren dabei lange dominant, zwischenzeitlich eroberten und kontrollierten sie rund 70 Prozent des Territoriums. „Furchtbare 1425 Tage dauerte die Belagerung Sarajevos durch serbische Truppen, und nach offiziellen Angaben fielen den Kämpfen rund 10.000 Menschen zum Opfer, unter ihnen 1601 Kinder. Durch Artilleriebeschuss, Minen oder Scharfschützen wurden rund 50.000 Menschen teilweise schwer verletzt. „, schreibt der WDR dazu.

An Tag eins habe man noch die Hoffnung gehabt, dass es sich bei dem Bombardement des ersten Kriegstages vielleicht um eine einmalige Sache handeln würde, schreibt Tijan Sila. Dass sich hier einfach diese nervöse, dunkle Stimmung Bahn gebrochen hatte, die seit Jahren über Bosnien gelegen habe. „Den Fassaden unserer Stadt waren über das letzte Jahrzehnt hinweg Schicht um Schicht von blutrünstigen Graffiti aufgesprüht worden. Sie forderten ‚Moslems in die Gaskammer‘ zu treiben und eine ‚Ausweitung von Serbien bis nach Tokio‘ (…). Sie behaupteten, dass Bosnien nie exitstiert habe, nicht existieren dürfe.“

Der Tod lautert hinter jedem Schatten

Die ersten Stunden des Kriegs verbrachte Tijan mit seinen Eltern und seinem Bruder im Keller ihres Wohnhauses, einem unscheinbaren Plattenbau aus den frühen Siebzigerjahren, mit kleinen Balkons und senffarbener Fassade. „Wir zuckten bei jeder Detonation, schrien und gingen in die Hocke, wenn Raketen durch Straßenfluchten kreischten, und zwischendurch sprachen wir verängstigt über das, was uns möglicherweise bevorstand“, schreibt Sila. „Bald schon würde ich in ständiger Panik sein und den Tod in jedem Schatten vermuten.“

Die Akademiker-Familie hat es in dieser neuen, verrohten Welt nicht leicht. Die Büchermenschen sind auf das Chaos nicht vorbereitet. Nur durch die Hilfe eines Jugendfreundes des Vaters wird sie mit dem Nötigsten versorgt. Es sind Leute wie dieser Kleinkriminelle, die in dieser neuen Welt plötzlich reüssieren. Tijan bemerkt schnell, dass seine Eltern ihm in dieser Zeit keine große Hilfe sein können. Auch er muss lernen, sich durchzuschlagen. Das tut er, gemeinsam mit seinen Freunden Rafik und Sead.

An der Freundschaft mit diesen beiden lässt sich die allgemeine Verrohung gut ablesen. Zu Beginn des Buchs verbringen die Drei ihre Zeit noch wie die anderen Kids auf dem Basketballplatz. Später brechen sie in Gebäude ein. Sie sind auf der Suche nach Pornoheftchen, um dieses gegen Essen oder Geld an UN-Blauhelme zu verkaufen. Irgendwann geht es bei Rafik und Sead nur noch um das Eine. Um Klebstoff schnüffeln. Onanieren. Mädchen und Frauen werden zu reinen Sexobjekten degradiert. Weil Tijan nicht mitmacht, stempeln sie ihn zum Verräter ab.

Entfremdung und Verrat

Die Entfremdung von den Mitmenschen, selbst von einst guten Freunden, die allgemeine Verrohung, Verrat, Enttäuschung – es sind die bestimmenden Themen in „Radio Sarajevo“. Sila beschränkt die Erzählung mehr oder weniger auf das Plattenbauviertel, in dem er aufgewachsen ist, er verliert sich nicht im Großen, das macht die Geschichte besonders anschaulich, dringlich und intensiv. „Radio Sarajevo“ erzählt weniger vom Krieg als vielmehr darüber, was der Krieg mit den Menschen macht. Man erfährt viel über Land und Leute. Und das ohne Pathos, ohne Kitsch. Tijan ist schonungslos mit sich selbst und anderen. Aber er geht die Sache auch nicht ohne Witz an, hier und da lässt er in seiner Erzählung durchaus auch Sarkasmus und Ironie zu.

Nach zwei Jahren flüchtet die Familie nach Deutschland. Allerdings kommt sie hier nie wirklich an, werden hier nicht glücklich. Der Vater stirbt schließlich an Krebs, die Mutter landet ob ihrer Paranoia in der Psychiatrie. Tijan Sila unterrichtet heute – unter seinem bürgerlichen Namen – an einer Berufsschule in Kaiserslautern: „In Bosnien wird die Generation meiner Eltern die ‚entwurzelte‘ oder die ‚ausgerissene‘ genannt. Meine Generation aber hat keinen Spitznamen, wir sind die Vergessenen. Ich schrieb dieses Buch auch, um dem Vergessen etwas entgegenzusetzen.“

Lesezeichen: Tijan Sila, „Radio Sarajevo“; Hanser Berlin; 173 Seiten, 22 Euro.  

9
Eindringlich.
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