Literarische Zeitreise: In ihrem Buch „Back for Good: Warum uns die Musik der 90er nicht loslässt“ widmen sich die beiden Musikjournalisten Stephan Rehm Rozanes und Fabian Soethof diesem Jahrzehnt der Euphorie und Unbekümmertheit – und den Musik-Genres und Trends, die es ausmachten.
Im Pop gibt es ebenso wie in der Mode eine eiserne Regel: Alles kommt wieder. Nach dem eine Mode ihre Zeit erlebt hat, wird sie in der Regel von einer anderen abgelöst, ein bisschen lächerlich gemacht, nur um dann mit gebührendem Abstand wieder recycelt zu werden und wohlige, nostalgische Schauer auszulösen. Im Pop hatten zuletzt die 1980er ein entsprechendes Revival durchgemacht, plötzlich hörte man allerorts zeitgenössische Künstler auf Synthie-Pop-Anleihen zurückgreifen. Und jetzt sind auch die 1990er Jahre wieder da.
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Es ist natürlich auch ein Jahrzehnt, das sich zur Wiederentdeckung anbietet. Einerseits waren die 1990er das letzte Jahrzehnt, in dem wirklich neue, prägende Genres entstanden und man nur bedingt von dieser jetzt herrschenden Retroseligkeit dominiert war. In Seattle wurde der Grunge geboren, in Kalifornien Crossover und Nu-Metal, in Ostberlin entstand Techno und auch der Deutschrap fing an, das Laufen zu lernen. Und dann waren die Nineties vielleicht das erste und letzte Jahrzehnt, in dem so etwas wie eine gewisse Unbekümmertheit in der Jugend herrschte. Jene der 1980er hatte noch Angst vor der nuklearen Apokalypse, der Kalte Krieg lag über allem wie ein grauer Schleier – und dann gab es ja auch noch den ersten Schock durch die HIV-Pandemie.
Sehnsucht nach dem Gestern
In den 1990ern schienen viele große, politische Probleme hingegen überwunden. Der Kalte Krieg war vorüber, die Mauer gefallen, Deutschland wiedervereint. Deutschland begann das Jahrzehnt als Fußball-Weltmeister. Eine gewisse Euphorie machte sich breit. Eine Euphorie, die bis zu den Terroranschlägen von New York am 11. September 2001 anhalten sollte. Nicht ohne Grund wird 9/11 als Zäsur bezeichnet, im Grunde waren die Anschläge das Ende des 1990er-Spirits.
Multikrisen machen 1990er zum Sehnsuchtsjahrzehnt
In Zeiten der Multikrisen mag man sich verständlicherweise in die unbekümmerten 1990er zurücksehnen. In ihrem neuen Buch „Back for Good“ widmen sich daher nun die Musikjournalisten Stephan Rehm Rozanes und Fabian Soethof diesem Jahrzehnt und seiner Pop-Geschichte. Die beiden Autoren haben sich beim Musikmagazin „Musikexpress“ kennengelernt, den Soethof mittlerweile aber verlassen hat. Zusammen haben die beiden 2020 einen 1990er-Podcast gestartet, in dem sie immer wieder namhafte Gäste aus der Musikwelt dieser Tage hatten, von Thees Uhlmann und Blümchen über T-Seven von Mr. President bis hin zu Jazzy von Tic Tac Toe oder Luci van Org. Zwischenzeitlich hatte der Podcast eine Pause eingelegt, feiert jetzt aber pünktlich zum Buch-Release sein Comeback.
In dem Buch kümmern sich Rehm Rozanes und Soethof um die Genres, die den Sound eines Jahrzehnts geprägt haben, beleuchten die wegweisenden Stars und fragen sich, welche Spuren diese hinterlassen haben. Dabei gibt es auch jede Menge neue Interviews, etwa mit Whigfield, DJ Bobo, Tobi Tobsen oder Shirley Manson (Garbage). Diese sind in diesem Machwerk auch das Salz in der Suppe, bieten sie doch den einen oder anderen neuen, erhellenden Einblick. Bei den Beschreibungen der Genres wäre hingegen ein bisschen mehr Einordnung wünschenswert gewesen, an Tiefgang oder Analyse fehlt es hier leider. Die Autoren fokussieren sich recht stark auf eine grobe Nacherzählung und ja, sehr viel Namedropping. Leider konnten sie sich auch viele müde Versuche, Songtitel in ihre Sätze einzubauen, nicht verkneifen (Ein Negativ-Beispiel: „Die Happy Nation Schweden won’t be fading like a flower, so we say thank you for the music“).
Das alles reicht aber auf jeden Fall aus, um so manche verschüttete Erinnerung wieder auszubuddeln. Und dabei helfen auch die Playlists, die es zu jedem Kapitel gibt.
Lesezeichen
Stephan Rehm Rozanes & Fabian Soethof – „Back for Good: Warum uns die Musik der 90er nicht loslässt“. Mit zahlreichen Interviews und Playlists zum Mithören. Originalausgabe; Geb. Format 13,5 × 21,5 cm; 351 S. · 50 teils farb. Abb.; ISBN: 978-3-15-011481-0; Reclam 2024
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