Stephen King, Immanuel Kant, Hannah Arendt: Sie alle waren schon Gegenstand in der populären „100 Seiten“-Reihe des Reclam-Verlags. In einem neuen Buch der Serie widmen sich nun die Autoren Hannes Eyber und Jens Johler nun einem Pionier der deutschen Rockmusik: Rio Reiser.
Seit dem Jahr 1918 gibt es in Deutschland keine Monarchie mehr. Einen König hatten – und haben – wir aber immer noch. Rio Reiser ist der „König von Deutschland“. In den 1970er Jahren mischt er mit seiner Band Ton Steine Scherben die Republik auf. Die Agitrocker geben der linken westdeutschen Jugend eine Stimme, den Hausbesetzern, Rebellen, Ökos, Spontis, Anarchos. Kurzum: der Gegenkultur. Ihr Song „Keine Macht für Niemand“ wird zur linken Hymne. Reiser, Hauptschreiber der Scherben, setzt dabei auf kraftvolle Poesie und Rockmusik, nicht auf Gewalt. Im Radio wird die Band dennoch nicht gespielt, sie gilt als zu gefährlich. Geld kommt daher kaum in die Kasse, die Band häuft Schulden an, was letztlich auch zu ihrem Ende führen wird.
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Reiser gründet eine Landkommune in Nordfriesland – und als dort der Traum von einem alternativen Leben misslingt, kommt ab Mitte der Achtziger Jahre der Erfolg mit der Solo-Karriere – zum Missfallen vieler alter Weggefährten, die ihm einen Ausverkauf an den Mainstream vorwerfen und den früheren Bürgerschreck als Schlagersänger verunglimpfen. Vor allem das Jahr 1986 gehört aber ihm: Songs wie „Junimond“ oder das bereits erwähnte „König von Deutschland“ werden Lieder für die Ewigkeit.
Viel zu früher Tod
Am 20. August 1996 stirbt Rio Reiser im Alter von gerade mal 46 Jahren. Die Todesursache: Kreislaufversagen, innere Blutungen. Auch 30 Jahre nach seinem Tod ist Reiser aber immer noch unvergessen. Ein Mythos. Ein Phänomen. Vorbild für viele deutschsprachige Künstler. Ein Nationalheiliger des deutschen Indie-Rock. 2022 wird in Berlin sogar ein Platz nach ihm benannt. „Rios Kreuzberger Zeit war eine kreative, aufrührerische und schwierige Zeit. Sein privates und künstlerisches Leben war avantgardistisch in jeder Hinsicht“, sagt die Grünen-Politikerin Claudia Roth, seinerzeit Managerin von Ton Steine Scherben, damals der Nachrichtenagentur dpa. Auch weil Reiser öffentlich zu seiner Homosexualität gestanden und damit gezeigt habe, das Private politisch sei.
Grund genug, sein Leben noch einmal zu beleuchten. Für den Reclam-Verlag wagen sich die beiden Autoren Hannes Eyber und Jens Johler an dieses Unterfangen. Hannes Eyber, geboren 1944, Rundfunk- und Drehbuchautor, war Songtexter und Produzent der letzten Studio-LPs von Ton Steine Scherben. Er verfasste zusammen mit Rio Reiser dessen biographisches Buch „König von Deutschland.“ Jens Johler, ebenfalls 1944 geboren, schrieb Theaterstücke, Wissenschaftsthriller und den Bach-Roman „Die Stimmung der Welt“. Zusammen mit Kai Sichtermann und Christian Stahl ist er Autor von „Keine Macht für Niemand,“ der Biographie der Scherben.
Alle Höhen und Tiefen
In diesem Buch zeichnen die beiden Autoren nun liebevoll, aber ohne jedwede Verklärung den Lebensweg des Ausnahmekünstlers Rio Reiser nach. In all seinen Höhen und Tiefen. Sie berichten von Rios Anfängen als „kostbares Juwel“ der Familie. Seinem Dasein als todunglücklicher Schüler. Dem Erstkontakt mit den Beatles. Von Rios enger Verbindung zum (2024 verstorbenen) R.P.S. Lanrue. Sie beleuchten die 1968er, die intensive Zeit mit den Scherben inklusive des legendären Auftritts beim Fehmarn-Festival („Das war der Urknall der deutschen Rockmusik“), die sich aber finanziell nicht in klingender Münze auszahlte. „Der oft gezogene Vergleich mit den Stones mochte schmeichelhaft sein, er hatte aber auch immer etwas Demütigendes: Die Rolling Stones rockten die Deutschlandhalle und verdienten Millionen – die Scherben rockten die TU-Mensa und machten Schulden“, schreiben die Autoren. Am Ende steht Reiser die Band im Weg, er will in die selben Höhen aufsteigen, in die es zuvor schon Udo Lindenberg, Herbert Grönemeyer und Marius Müller-Westernhagen geschafft hatten.
Es geht auch um Rios Homosexualität (damals gilt noch der berüchtigte Paragraf 175 – Homosexualität war verboten, Schwule wurden gesellschaftlich geächtet) und darum, wie diese ihm zu einer Filmrolle verhilft: Dass Rio im Film „Johnny West“ einen Roadie spielen darf, der sich in eine schöne Frau (Kristina van Eyck) verliebt, liegt daran, dass der eifersüchtige Regisseur Roald Koller in die Schauspielerin verliebt ist und daher lieber Rio statt Herbert Grönemeyer für die Rolle bucht. In letzterem sieht er nämlich einen potenziellen Nebenbuhler, in Rio – aus Gründen – nicht. Dafür sticht Grönemeyer später Rio aus, als es um eine Rolle in „Das Boot“ geht.
Die Autoren erzählen auch vom erbarmungswürdigen Ende des großen Songschreibers Rio Reiser. Karrieretechnisch geht es bei diesem nach dem Mauerfall und dem Beitritt zur PDS bergab. Dazu kommen schwere gesundheitliche Probleme, wohl auch durch seinen Hang zu Drogen (Meskalin, Heroin, Kokain, LSD) und Alkohol begünstigt. Die Autoren erzählen davon, wie Reiser am Ende das Blut aus der Kehle schießt – und diese große Stimme für immer verstummt.
Zweites Buch erschienen

Neben „Rio Reiser. 100 Seiten“ ist parallel auch ein zweites Reiser-Buch im Reclam-Verlag erschienen. In „Rio Reiser – Für immer und dich“ sind die wichtigsten Songtexte aus dem Werk des „Königs von Deutschland“ versammelt. Diese stammen sowohl aus seinen Anfängen, seiner Zeit mit Ton Steine Scherben, aber auch aus seiner Solo-Phase. Unbekanntes oder noch nicht Veröffentlichtes fand hier ebenfalls Einzug. Durch die fehlende Ablenkung durch die Musik oder Reisers rauchige Stimme kann man sich nochmal voll auf seine Lyrics einlassen.
Der Musikjournalist Oliver Kobold ordnet das Phänomen Rio Reiser in einem kundigen Nachwort ein. Er würdigt den Mann und seinen permanenten künstlerischen Output, zeigt auf, wieviele Transformationen so ein Rio-Reiser-Lied durchlebte, ehe es schließlich veröffentlicht wurde. Die Saat zu „König von Deutschland“ etwa, 1986 veröffentlicht, wurde schon Mitte der Siebziger Jahre gesetzt. Und Kobold zeigt auch fachkundig auf, wie sich Reisers Songwriting über die Jahre veränderte.
Rios Bruder Gert C. Möbius, der die unveröffentlichten Texte zur Verfügung stellte, kommt am Ende ebenfalls noch einmal zu Wort. Er weist auf die tiefe Empfindsamkeit seines Bruders hin, erzählt von diesem als wachen Träumer. der mit Ungerechtigkeiten aller Art nicht umgehen konnte – oder besser: wollte. Und er verrät: „Rio hatte ein sehr weites Interessensspektrum aufzuweisen, er las die ‚Moderne Hausfrau‘ mit gleichem Interesse wie Lion Feuchtwanger, Karl May oder die Bibel.“
Der König von Deutschland war für alle da.
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