Benjamin von Stuckrad-Barre - Noch wach? (foto: Kiepenheuer & Witsch)

Benjamin von Stuckrad-Barre – Noch wach?

Erscheinungsdatum
April 22, 2023
Verlag
Kiepenheuer & Witsch
Unsere Wertung
8.5

Auf keinen deutschen Roman dürfte die Öffentlichkeit in diesem Jahr fiebriger warten als auf den neuesten Wurf von Benjamin von Stuckrad-Barre. Das Werk wird von vielen als Schlüsselroman über den Axel-Springer-Verlag und den Fall Julian Reichelt gedeutet, auch wenn es ausschließlich mit fiktiven Figuren operiert.

Berlin. In der deutschen Hauptstadt erzählt eine junge Frau von ihrem neuen Job bei einem großen Fernsehsender, von ihrem neuen Chef, ihrem neuen Leben. Sie wirkt auf den ersten Blick glücklich, beseelt, hoffnungsfroh. Sprung in die USA. Das Zeitalter des Donald Trump ist angebrochen, die USA haben einen Präsidenten, der damit angibt, sich gegenüber Frauen alles herausnehmen zu können. Im Garten des legendären „Chateau Marmont“, diesem Nachtspielplatz verwöhnter Hollywood-Kids jeden Alters, vertreibt sich eine illustre Bande auf der Flucht vor der Realität die Zeit. Eskapismus made in Los Angeles. Auch der Erzähler dieser Geschichte ist hier – und Rose McGowan, die Schauspielerin, der man nachsagt, neuerdings irgendwie anstrengend geworden zu sein. 

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Kurz darauf erschüttert der Weinstein-Skandal Hollywood, und Rose McGowan ist eine der ersten Frauen, die sexuelle Belästigung durch den bis dahin von ganz Hollywood hofierten Filmproduzenten öffentlich gemacht hat. Rose verschwindet, aber sie hinterlässt dem Erzähler eine kryptische Nachricht – oder ist es vielmehr ein Auftrag? Wieso wendet sie sich ausgerechnet an ihn? Von Hollywood aus verbreitet sich die #MeToo-Bewegung um die ganze Welt. Doch die alten Machtstrukturen sind widerständiger, als man in der ersten Euphorie vielleicht denken mochte.

Zwischen den Fronten

Zurück in Berlin findet sich der Erzähler nicht mehr nur als Liegestuhlbeobachter, sondern nun als Akteur mitten in einem unübersichtlichen Geschehen wieder, das ihn in einen tiefen persönlichen Konflikt stürzt. Denn auch der Fernsehsender, an dessen Spitze ein guter Freund von ihm steht, ist plötzlich Schauplatz eines #MeToo-Skandals. Und unser Erzähler steht zwischen den Fronten.

Mit „Noch wach?“ ist Benjamin von Stuckrad-Barre ein echter Sensationsroman gelungen. Kaum ein Werk jüngerer deutscher Literaturgeschichte wurde mit so viel Getöse erwartet. Es ist eine Geschichte über Machtstrukturen und Machtmissbrauch, über menschliche Abgründe, ein Sittengemälde des Mediengeschäfts. Und es geht um Wissen. Mitwisser. Beziehungsweise: den Umgang damit. „Wenn sie sich Dir anvertrauen – sei kein Arschloch.“ Ein Kernsatz.

Benjamin von Stuckrad-Barre war gut mit dem Springer-Chef Mathias Döpfner befreundet, dessen Haus unlängst durch den Fall Julian Reichelt erschüttert wurde. Dem früheren BILD-Chefredakteur wurde hausintern Machtmissbrauch beziehungsweise die Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen vorgeworfen, er wies die Anschuldigungen zurück, musste aber letztlich gehen und ist seither auf YouTube unterwegs.

Beim Lesen von „Noch wach?“ fühlt man sich natürlich stark an den Fall erinnert, auch wenn von Stuckrad-Barre betont, dass der Roman zwar von realen Ereignissen inspiriert, letztlich aber eine davon losgelöste, unabhängige und fiktionale Geschichte sei. Die zentralen Figuren bleiben alle namenlos. Die Ähnlichkeiten zwischen ihm und dem Erzähler sind aber schwer zu leugnen. Zumal von Stuckrad-Barre, der ja selbst für Springer gearbeitet hat, angeblich eine ähnliche Rolle in dem Fall eingenommen haben soll. Es ist dieser Umstand, dieses Buch noch interessanter macht.

Meister des gesprochenen Worts

„Noch wach?“ ist auf jeden Fall Deutschlands erster wirklich Aufsehen erregender „MeToo“-Roman. Die Tatsache, dass er von einem Mann geschrieben wurde, mag viele stören. Dennoch kann das nicht davon ablenken, dass von Stuckrad-Barre hier mal wieder auf höchstem Niveau agiert. Der Mann hat einfach ein Gespür für Themen. Und für wörtliche Rede. Das wirkt alles unheimlich echt, unheimlich plastisch. Bei aller Uneindeutigkeit. Auch die Tatsache, dass der Erzähler hier nicht zum Retter in strahlender Rüstung avanciert, sondern dessen Hilflosigkeit und Nachdenklichkeit spürbar werden, gefällt. Der Kitsch bleibt aus. Alles andere wäre eine Farce gewesen.

Lesezeichen

Benjamin von Stuckrad-Barre – Noch wach?; Verlag: Kiepenheuer & Witsch; Erscheinungstermin: 22.04.2023; 384 Seiten; ISBN: 978-3-462-31145-7

8.5
Gelungenes Sittengemälde.
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