Josienne Clarke - Far From Nowhere (foto: Corduroy Punk)

Josienne Clarke – Far From Nowhere

Erscheinungsdatum
Oktober 17, 2025
Label
Corduroy Punk
Unsere Wertung
7.5

In der Isolation hat sich die britische Singer-Songwriterin Josienne Clarke Gedanken darüber gemacht, was es heutzutage bedeutet, eine Künstlerin, eine Musikerin zu sein. Herausgekommen ist ein Album, „Far From Nowhere“, das in seiner unprätentiösen Lofi-Qualität unheimlich intim daherkommt.

Es gibt Künstler und Künstlerinnen, die mit einem solch unfassbaren Talent gesegnet sind, dass man sich fragt, warum sie den ganz großen Durchbruch noch nicht geschafft haben. Die irgendwie Zeit ihres Wirkens immer ein Geheimtipp bleiben, von Kennern geschätzt, beim Mainstream aber unter dem Radar fliegend. Josienne Clarke fällt in diese Kategorie. Seit 2008 macht die Gute schon Musik, bis 2019 bildete sie ein Duo mit Ben Walker, seither wandelt sie vor allem auf Solo-Pfaden und veröffentlicht auch in recht hoher Schlagzahl neue Musik.

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Nun also, der neueste Wurf. „Far From Nowhere“. Für die Arbeiten an dem neuen Machwerk hat sich die Songwriterin, Gitarristin und Sängerin mit der kristallklaren Stimme in eine abgelegene Hütte in Schottland zurückgezogen. Das freiwillige Exil war die Konsequenz aus den logistischen und emotionalen Belastungen, die es im Jahr 2025 mit sich bringt, im Musikbusiness zu überleben, sagt sie. “Musik zu machen fühlt sich für mich heute oft wie ein Akt des Rückzugs an“, so Clarke. “Die Struktur der Branche erstickt nach und nach den Spirit der Künstler*innen, raubt ihnen das Selbstwertgefühl, das aus einer fairen Bezahlung für gute Arbeit erwächst – da war es nur folgerichtig, mich in eine Hütte im Wald zurückzuziehen, um dieses Album aufzunehmen.

Bronchitis zur Unzeit

Es ging ein bisschen chaotisch los. Ausgestattet mit Song-Skizzen, ein paar Instrumenten und der Idee, ausschließlich analog aufzunehmen, reiste Clarke für eine Woche in die schottischen Highlands. Zusammen mit Murray Collier, der mit Clarke co-produzierte und das Tonbandgerät bediente, machte sie sich ans Werk. Es gab keinen festen Plan, keine Pre-Production – und dank einer plötzlich auftretenden Bronchitis fast keine Stimme in den ersten Tagen, man hört das am besten beim hymnischen Opener „We’re Never Coming Back“ heraus. Anstelle von Perfektion trat das Ungeschliffene. Was die fast durchgehend solo aufgenommenen Stücke nur umso interessanter macht. Das Ganze wurde übrigens in dem das Album begleitenden Kurzfilm „Deluded“ (Regie: Alec Bowman Clarke) eingefangen.

Das Rohe, das Unperfekte, Ungeschminkte wird auf „Far From Nowhere“ zum Prinzip erhoben. Spärliche, aufs Wesentliche reduzierte Instrumentierung. Kaum Refrains. Bandrauschen, schnarrende Saiten, Finger auf dem Griffbrett, gelegentlich ein nicht ganz getroffener Ton oder hörbare Atemzüge. All das durfte sein, all das war erlaubt. Der Boss hat sich das bei seinem Album „Nebraska“ schließlich auch gestattet. Auch Stille als Stil-Element scheute man nicht (siehe die Pausen bei “The Sucker of Struggle”). Clarke, das merkt man, ging es hier um Wahrhaftigkeit.

Beeinflusst von den dunklen Seiten des englischen Folk

Am Ende ist eine Platte mit 13 Songs entstanden, auf denen sich Clarke zwischen existenzieller Reflexion, stiller Wut, dunklem Humor und berührender Schönheit bewegt. Exemplarisch dafür steht der zerbrechlich anmutende Song “Tiny Bird’s Lament” – begleitet nur von Nylon-Gitarre und sich überlagernden, vogelähnlichen Gesangsspuren. Die Melodie ist einnehmend und doch unheimlich. Auch Stücke wie das zauberhafte “Dreams of Sleep” und das melancholische “Bushes, Briars & Thorns” sind größtenteils ungeschmückt – beeinflusst von der dunklen Seite englischer Folk-Traditionen. Düster ist auch die knarzende Ballade „The Madler Horror Story“, das auf einer Sci-Fi-Kurzgeschichte basiert, die Clarke geschrieben hat. Das Zerstörerische des Songs wird hier durch ein Sound-Sample von loderndem Feuer unterstrichen.

Auf „Far From Nowhere“ beschäftigt sich Clarke schwerpunktmäßig mit dem kreativen Prozess, mit Identität, Erinnerung und ihrer Last, dem Bedauern. Und sogar ein bisschen Kulturkritik leistet sie sich. Das ironische “AI Love You” persifliert die Künstlichkeit maschinell erzeugter Kunst. Die klagende Gitarre trifft auf trockenen Text und glitchige Omnichord-Töne, während Clarke in die Rolle eines pedantischen Automaten schlüpft.

Platz für das Gefühl

Daneben hat das Gefühl bei Clarke immer Platz. Das süßlich anmutende “Afternoon Shadow” , in zehn Minuten geschrieben und in einem Take aufgenommen, wird getragen von trillernden Vocals und gezupften Akkorden. Das leicht jazzige “In the Dark of the Night” fühlt sich wie die von Clarke so konzipierte musikalische Umarmung an. Der Song kommt mit taumelndem Bass, schimmerndem Tamburin und der leicht fallenden Melodie von Clarkes Stimme daher.

Das eröffnende, eingangs bereits “We’re Never Coming Back” ist derweil einer der berührendste Songs, die Clarke je geschrieben hat. Ihre Stimme steigt wie Nebel über Drohnen und Arpeggien auf. Der Text liest sich dabei wie ein beruhigendes Manifest kreativen Schaffens: “You already know the answer / To sing / To breathe / To feel for form and formula”. “Genau das können Songs tun: Verbindung im Dunkeln stiften – ein kleiner Lichtfunke sein“, sagt Clarke.

Kreative Rastlosigkeit

Doch das direkt folgende “What Do I Do?” stellt das sofort infrage: Wenn alles möglich ist – wo soll man überhaupt anfangen? Es ist Musik gewordene Unsicherheit. Anxiety. Mit zuckenden Akkorden und Drum Machine entsteht ein nervöser, zweifelnder Song über kreative Rastlosigkeit, Mutterschaft und Beziehungen. Die Stärke von Clarkes Schreiben liegt in dieser Offenheit: Sie lässt Mehrdeutigkeit zu und traut dem Gegenüber zu, seine eigene Interpretation zu finden.

Das letzte Stück, “A Slow Burn” , ist als Closer gut ausgewählt. Es ist Schlusswort und Essenz der Platte zugleich. Der Titel ist hier auch Programm. Die Nummer ist eine regelrechte Meditation über Geduld, Ausdauer und den langen Atem eines künstlerischen Lebens. Clarke richtet sich dabei nicht nur an sich selbst, sondern an alle, die zuhören. Als Ermutigung, nicht aufzugeben.

Anspieltipps
Tiny Birds Lament
Dreams of Sleep
The Madler Horror Story
AI Love You
7.5
"Nebraska" liegt in Schottland.
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