Sharon Van Etten beschreitet neue Wege. Erstmals hat sie ihre Band von Anfang an in den Entstehungsprozess eines neuen Albums eingebunden. Das Ergebnis dieses Loslassens und gewollten Kontrollverlusts kann man sich nun auf “Sharon Van Etten & The Attachment Theory” zu Gemüte führen.
Eigentlich mag Sharon Van Etten die Kontrolle. Zumindest wenn es um ihre Arbeit geht. Um den kreativen Prozess. Was nicht heißt, dass sie sich nicht gerne herausfordert. Ganz im Gegenteil. Davon hat man sich ja in den letzten zehn, 15 Jahren überzeugen können. Da hatte die Gute sogar eine Pause von der Musik eingelegt, ist Mutter geworden, hat Psychologie studiert und mit der Schauspielerei angefangen. Und auch an ihrem Sound hat die Van Etten immer wieder gefeilt und verändert, hat von Indie-Folk bis Indie-Rock alles abgedeckt.
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Soll man den neuen Wurf als nun als ihr siebtes Album bezeichnen? Oder als Debütalbum von „Sharon Van Etten & The Attachment Theory“? Wahrscheinlich wäre Letzteres richtiger. Denn die Nennung der Band in Albumtitel und Bandname ist keine bloße höfliche Geste, sondern die logische Konsequenz des großen Einflusses, den die gesamte Gruppe auf die Formwerdung der Platte hatte. So elektronisch wie auf “Sharon Van Etten & The Attachment Theory” klang die Gute allerdings noch nie.
Jam-Session in der Wüste
Diese neue Herangehensweise, Musik unter dem neuen Moniker zu veröffentlichen, begann mit einer Einladung an ihre Band – Jorge Balbi (Schlagzeug, Maschinen), Devra Hoff (Bass, Gesang) und Teeny Lieberson (Synthesizer, Klavier, Gitarre, Gesang) -, Teil des kreativen Prozesses zu werden. Dafür wurde die Truppe buchstäblich in die Wüste geschickt. Dort wurde nämlich für eine bevorstehende Tour geprobt. Und eben bei diesem Unterfangen hatte Van Etten eine Eingebung: “Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich die Band gefragt, ob wir einfach mal jammen könnten. Worte, die ich noch nie gesagt habe – nie! Doch ich liebte all die Sounds, die wir kreierten, und war neugierig: Was würde passieren?“ Die Antwort war magisch: “In einer Stunde schrieben wir zwei Songs, die später zu ‘I Can’t Imagine’ und ‘Southern Life’ wurden.“
Dieser kreative Mut eröffnete eine neue Dimension in Sound und Songwriting. Die Themen bleiben zeitlos, typisch Sharon – es geht um Leben und Liebe, Geliebtwerden und Lieben, die Klassiker also. Doch die musikalische Umsetzung ist diesmal anders. Diese neue Lust an kühlen, elektronischen Sounds, die schwer den Geist der 1980er Jahre atmen, erwähnten wir bereits. Es spricht für Van Etten, dass man sie zwischen den für sie ungewohnten New-Wave-, Post-Punk, Indie-Pop- und Trip-Hop-Anleihen immer noch heraushört.
Die Glanzlichter
Der dringliche Opener “Live Forever” gibt dabei gleich die Richtung vor. Düstere Synthesizer, scharfer elektronischer White Noise bestimmen hier das Geschehen. Van Etten wirft in der Nummer die große universelle Frage auf: “Who wants to live forever? It doesn’t matter. It doesn’t matter.“ Beim gefühligen, aber dennoch tiefgründigen “Afterlife” pulsieren dann Synthie-Beats hypnotisch um Text und Melodie, und obwohl es um das Nachleben und die Frage geht, ob uns geliebte Menschen auch nach unserem Leben noch nah sein werden, verleiht die Band dem Song eine überraschende Leichtigkeit.
Der Track “Somethin‘ Ain’t Right” kommt dann durchaus tanzbar daher, mit einem durchgehenden Synth-Ostinato von Keyboarderin und Sängerin Teeny Lieberson. In dem leise beginnenden “Fading Beauty” erforscht Van Etten, was es bedeutet, einfach nur ein Mensch zu sein. Und bei dem rockigen „Idiot Box“ channelt Van Etten ihren inneren Bruce Springsteen, bei „Southern Life (What It Must Be Like)“ standen eher Siouxsie and the Banshees Pate. Diese neue Flexibilität steht Van Etten ausgesprochen gut.
Fun fact: Obwohl das Album in der Wüste geboren wurde, fand die Aufnahme im ehemaligen Londoner Studio der Eurythmics, The Church statt, das eine perfekte Ergänzung für die mystische Kombination aus Elektronik und analogem Klang der Band bot.
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