Das Unglück von Roskilde: Wie heute für Sicherheit gesorgt wird

Es war eine Tragödie, die die Musikwelt verändert hat: Neun Menschen starben im Jahr 2000 während eines Konzerts von Pearl Jam beim dänischen Roskilde-Festival. Ein Unglück, das bis heute Einfluss darauf hat, wie Sicherheit bei Großveranstaltungen organisiert wird.

Am Auftaktwochenende spricht viel dafür, dass die erwarteten 130.000 Besucher beim Roskilde-Festival eine gute Zeit haben werden.  Noch bis zum 5. Juli wird beim genreübergreifende Großereignis in der gleichnamigen dänischen Domstadt (50.000 Einwohner), 30 Kilometer westlich von Kopenhagen gelegen, mit Acts wie Olivia Rodrigo, Charli XCX, Stormzy und Nine Inch Nails gefeiert. Alles ist angerichtet für eine große Party.

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Das seit 1971 jährlich stattfindende Event hat unter Musikfans einen fantastischen Ruf. Auf dem  Festival haben schon Bob Marley, U2, Metallica, Bob Dylan, Nirvana, David Bowie, die Rolling Stones, Bruce Springsteen,  Prince oder Paul McCartney gespielt. Roskilde, das war immer auch ein Magnet für die ganz großen Namen.

Massenpanik vor der Bühne

Seit  2000 steht das Festival aber auch für eine der größten Tragödien, die sich je bei einem Musikfestival abgespielt hat. Am 30. Juni spielen  Pearl Jam auf der Hauptbühne. Das Gedränge vor der  Orange Scene ist kurz vor Mitternacht groß, 50.000 Menschen wollen die Band um Frontmann Eddie Vedder erleben. Es hatte  an dem Tag geregnet, der Boden ist entsprechend matschig. Als das Gedränge und Geschiebe losgeht, verlieren viele Fans auf dem rutschigen Untergrund den Halt, stürzen, andere fallen wiederum auf die am Boden Liegenden. Es kommt zu Panik. Die Band bemerkt, dass etwas nicht stimmt, versucht, die Menschen dazu zu bewegen, ein paar Schritte nach hinten zu gehen, mehrfach unterbricht sie ihr Set. Doch die Bemühungen sind erfolglos. Am Ende sind neun Männer im Alter zwischen 17 und 26 Jahren tot. Erdrückt. Erstickt.

Das Unglück wird  untersucht, Schuldige im juristischen Sinne werden nicht ausgemacht. Ein Gedenkstein erinnert heute an die Toten. Pearl Jam ziehen sich  zunächst aus der Öffentlichkeit zurück, auch Jahrzehnte später ist der Schmerz über die Tragödie nicht verflogen. Immer wieder erinnert die Band an den Vorfall, hat auch Angehörige der Toten besucht. Im Song „Love Boat Captain“ (2002) verarbeiteten Pearl Jam  das Geschehen: „It’s an art to live with pain, mix the light into the grey; Lost nine friends we’ll never know, two years ago today/And if our lives became too long, would it add to our regret?“In seinen Audible-Memoiren „I Am Mine“ verrät Vedder später: „Mindestens eine Person in der Band dachte, dass wir vielleicht nie wieder spielen sollten, und auch wenn der Rest von uns nicht so gefühlt hatte, war das nichts was man einfach so abtun konnte.“

Wellenbrecher sind  heute Standard

Morten Therkildsen hat das Unglück damals vor Ort  miterlebt. Der heute 51-Jährige war als Volunteer im Waste Management im Einsatz, wie schon in den Jahren zuvor, und stand während des Pearl-Jam-Konzerts etwas weiter hinten in der Menge. „Wir Volunteers hatten in dem Moment nicht verstanden, was da gerade passiert. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis wir wussten, was los ist. Das war noch die Zeit vor Social Media, als sich solche Informationen noch nicht so schnell verbreiteten“, sagt der Däne. 

Heute ist Morten Therkildsen selbst für die Sicherheit beim Roskilde-Festival zuständig. Als Director of Safety and Guest Relations ist er  Chef eines zehnköpfigen Kern-Teams und von 6000 Volunteers. „Ich habe im Februar 2006 meine eigene Crowd-Safety-Management-Firma gegründet, die erste in Dänemark überhaupt. Sie ist schnell gewachsen, wir waren bei vielen großen Events dabei. Unter anderem auch beim Roskilde. 2013 habe ich meine Firma an die Roskilde-Gruppe verkauft und kümmere mich seither dort um Sicherheit und Crowd-Management“, sagt er. „Aber wir bieten unter dem Roskilde-Banner unsere Dienste auch weiter bei anderen Events an“, so Therkildsen, der so unter anderem schon den Eurovision Song Contest in Dänemark, Fußball-Champions-League-Spiele oder andere große Konzertveranstaltungen betreut hat.

Neue Sicherheitsstandards

Nach dem Unglück von 2000 hat sich viel verändert. Weltweit wurden Sicherheitskonzepte überarbeitet. Natürlich auch beim Roskilde selbst. Es gab neue Richtlinien, „Guides“, die sich das Roskilde-Festival auferlegt hat, die in der Zwischenzeit auch schon wieder modernisiert wurden. So gab es in Folge etwa Asphaltierungen, um die Rutschgefahr zu mindern. Es gab erweiterte Schulungen für Sicherheitskräfte, abgesperrte Sicherheitsbereiche. Metall-Gestelle als Barrieren und Wellenbrecher, die verhindern, dass in der Menge zu viel Druck entsteht, sind heute Standard. „Wobei es nicht ausreicht, sie zu haben. Es ist eine Wissenschaft für sich, wie man sie stellt, in welchem Winkel, wie man das System designt. Das hängt immer von den Gegebenheiten vor Ort ab, das erfordert viel Planung und Erfahrung“, so Therkildsen.

Ob da heutzutage auch KI hilft und den optimalen Standort berechnet? „Ich bin KI-skeptisch. Im Bereich Sicherheit würde ich nie eine Entscheidung treffen, die nur auf KI-Daten fußt. Das wäre mir zu riskant. Ich vertraue dem Verstand eines fachkundigen Menschen da eher“, sagt Therkildsen. Dennoch komme KI zum Einsatz, man teste jedes Jahr interessante Neuerungen aus. Dabei geht es in der Regel um die Bewegungen in der Menge: Wohin zieht es die Leute? Wie schnell bewegen sie sich? Und: Wie sind sie drauf? „Das kann man an den Gesichtsausdrücken ablesen“, sagt Therkildsen.

Morten Therkildsen. (foto: Christoffer Anias Sandager)

GPS-Daten werden ausgewertet

Zudem würden etwa GPS-Daten ausgewertet. „Wir holen uns da vorher natürlich die Erlaubnis ein. Die Daten sind auch nicht einem Individuum zuzuordnen, klar“, sagt Therkildsen. In Sachen Datenschutz ticken die Dänen und die Deutschen ähnlich. Vor ein paar Jahren hatte man auch eine Drohne im Einsatz, um mögliche Feuer-Stellen ausfindig zu machen. Generell gelte: „Kameras sind immer eine gute Sache. Wobei wir keine Sicherheitskameras verwenden, um Person XY zu finden, sondern Crowd-Management-Kameras, die uns etwas über die Bewegung der Menge erzählen können“, so Therkildsen.

Der Jahrestag des Unglücks sei in Dänemark ein großes Thema. Viele Presseanfragen prasseln derzeit auf ihn ein. Therkildsen findet das gut. „Wir wollen die Erinnerung an das Ereignis aufrechterhalten. Es ist ein Teil unserer Geschichte, den wir respektieren“, sagt er. Die Erinnerung sorge sowohl bei den Zuschauern als auch bei den für die Sicherheit zuständigen Mitarbeitern für erhöhte Wachsamkeit. Und gerade beim Publikum auch für ein gewisses Verständnis für An- beziehungsweise Durchsagen. „Wir sind ja auf der Seite des Publikums. Bei solchen Großereignissen gibt es immer Herausforderungen. Sicherheit können wir nur mit dem Publikum gemeinsam schaffen“, sagt Therkildsen. Deswegen nehme er Interviewanfragen zu dem Thema auch an.

Die jungen Menschen sind heute anders

Ob sich das Publikum seit damals verändert hat? „Nun, damals gab es mehr Rock-Konzerte, mehr High-Energy-Veranstaltungen. Heute ist eher Hip-Hop angesagt, das ist eine etwas andere Kultur“, sagt Therkildsen. Die Jugend sei heute insgesamt anders als damals, auch Covid habe seinen Teil dazu beigetragen. „Die jungen Menschen haben gelernt, dass es wichtig ist, Abstand zu halten. Bei solchen großen Events stehen sie jetzt dicht an dicht, das ist für sie ungewohnt“, so Therkildsen.

Rund anderthalb Jahre dauere es, ein Sicherheitskonzept für ein Riesenereignis wie Roskilde zu erstellen, das dann am Ende auch von den Behörden lizenziert wird. Irgendetwas ändere sich immer wieder, etwa, weil es neue Bestimmungen gibt, etwa beim Brandschutz. Aber auch, weil man vielleicht neue Erkenntnisse gewonnen hat.  In dem Bereich Sicherheit lerne man nie aus, so Therkildsen. Regelmäßig gebe es Sicherheitskonferenzen, bei denen sich Crowd Manager wie er treffen und über aktuelle Problemfälle und Lösungen sprechen. „Wenn irgendwo auf der Welt etwas schief gegangen ist, wollen alle daraus lernen. Das ist unsere Verantwortung“, so Therkildsen.

Der rote Knopf zum Abbruch ist wieder abgeschafft

Es werde in diesen Runden auch immer viel diskutiert. Etwa, wann es richtig und geboten ist, eine Veranstaltung abzubrechen. Die Roskilde-Organisatoren gerieten im Jahr 2000 in die Kritik, weil sie das Festival nach dem Unglück weiterlaufen ließen. Morten Therkildsen möchte das nicht kommentieren, weil er damals nicht in Verantwortung stand. Allgemein lasse sich aber sagen: „Generell stellt sich die Frage, was man erreichen möchte. Ein Abbruch kann die richtige Entscheidung sein. Aber da ist auch der Zeitpunkt entscheidend. Will ich etwa dafür sorgen, dass ein Krankenwagen zügig zu einem Einsatz-Ort auf dem Festival gelangen kann, kann es kontraproduktiv sein, Zehntausende Menschen nach Hause zu schicken, die dann die Straße verstopfen und es den Einsatzkräften so schwerer machen. Das ist letztlich immer ein Abwägungsprozess, da muss man auch das Publikum kennen und sich die Frage stellen: Wie verhält es sich jetzt“, so Therkildsen.

In Roskilde hat man nach dem Unglück schon diverse Abbruch-Strategien implementiert. „Es gab mal eine Weile einen roten Knopf, mit dem wir buchstäblich die Show stoppen konnten. Dann wollten wir einen kooperativeren Ansatz mit den Künstlern, haben uns für Signale, etwa eine Rote Karte entschieden. Heute ist ein Show-Stop-Manager im Hintergrund auf der Bühne“, so Therkildsen. Es ist wie bei einem Arzt: Gut, dass er da ist. Noch besser, wenn er nicht aktiv werden muss.

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